Musicals, leichte Romane oder neuerdings immersive Ausstellungen: Manchmal wünschen Menschen sich eher “leichte Kost”. Konzeptkünstler Michael Kuball sieht in dieser Entwicklung auch Risiken.
“Monets Garten” in Köln, “Klimts Kuss” in Mainz oder “Vermeer – Meister des Lichts” in Stuttgart – Ausstellungen, in die Menschen gewissermaßen “eintauchen” können, liegen im Trend. Mischa Kuball ist Konzeptkünstler und Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Künste NRW. In einem am Freitag veröffentlichten Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht der Professor für Medienkunst an der Kölner Kunsthochschule für Medien über das Phänomen sogenannter immersiver Ausstellungen – und über die Frage, ob sie eher anregen oder sie Sinne betäuben.
Frage: Wie bewerten Sie den aktuellen Boom immersiver Kunstausstellung?
Antwort: Ich halte erst einmal alles für möglich, was im Medienangebot existiert. Dazu gehören auch immersive Räume, also Räume, die ein Eintauchen, ein Umschlossensein, ein Umfangensein von Bildern und Tönen beinhalten. Diese Kulturpraxis ist nicht neu, aber sie ist durchaus jetzt wieder in einer Renaissance. Wenn man an Schloss Neuschwanstein denkt – König Ludwig II. hat auch versucht, die musikalische Implikation einer Wagner’schen Oper als ein totales Erlebnis in seinem Schloss zu integrieren. Immersive Räume sollen ein Hineinversetzen in eine andere Wirklichkeit ermöglichen.
Frage: Was ist der Unterschied zu heutigen Projekten?
Antwort: Heute sehe ich das Problem, dass über die künstlerische Setzung hinweg eine Veränderung vorgenommen wird, die das menschliche Abstraktionsvermögen nicht mehr herausfordert. Wenn ich ein Bild von Peter Bruegel anschaue, das 40 mal 60 Zentimeter groß ist und ein kleines Universum seiner Welt darstellt, dann erfasse ich es mit dem Auge und muss es mit meiner Imagination und einer großen vernetzten Leistung des Gehirns erschließen. Wenn ich in dieses Bild aber als große Raumprojektion eintrete, dann verschieben sich die Dimensionen und die Skalierung, ich bin praktisch umhöhlt und damit auch ein Stück weit betäubt. Das heißt, hier wird das Gegenteil von Denkfähigkeit, Ideenentwicklung und Kreativität gefördert, es geht im Grunde um Überwältigung. Und das ist meine Kritik.
Frage: Würden Sie trotzdem von Kunst sprechen?
Antwort: Nein. Zum Teil, muss man offen sagen, ist es gut gemachtes Entertainment. Das ist auch völlig zulässig. Denken Sie an das Format Musical: Es ist eben ein Musical und ersetzt nicht die Oper oder das Kammerspiel, aber es ist eine zusätzliche Kulturpraxis. Oder ein leichter Roman, den man zwischen zwei S-Bahn-Haltestellen anfangen kann zu lesen und auch jederzeit unterbrechen kann. Das ist keine schwere, anspruchsvolle Lektüre – und so ist es auch bei der Immersion. Das ist leichte Kost.
Frage: Welche Konsequenzen sehen Sie?
Antwort: Bei Kindern, das zeigen neurowissenschaftliche Studien, führt dies zum Abschalten und zu Distanz. Es ist eine Gefahr, wenn wir eine junge Generation an die Unterhaltungsbranche verlieren, die wir gut und durch gezielte Angebote in der Museumspädagogik abholen könnten.
Frage: Manche argumentieren umgekehrt: Wenn Menschen in einer immersiven Ausstellung waren, haben sie vielleicht danach auch Lust, ins Museum zu gehen. Was meinen Sie?
Antwort: Das wird oft behauptet, aber ich kann diesen Übertrag nicht erkennen, weil die Strategien andere sind. Normalerweise folgen Sammlungen in ihrer Präsentation einer inneren Logik oder Konzeption. Dann folgen die Dinge aufeinander: Man bewegt sich zum Beispiel durch verschiedene Epochen oder durch verschiedene Medien. Jedes Mal, wenn ich einen Raum betrete, betrete ich eine ausgewählte, gestaltete Situation. Diese Absicht muss ich mir gewissermaßen erarbeiten, sie erfahren und durchdenken.
Das ist bei der Immersion nicht nötig: Da gehe ich hinein – und alles, was es gibt, zeigt sich, ohne entdeckt zu werden. Bei diesem Überwältigen haben Sie keine Chance auf Entdeckung. Da brauchen Sie nicht näher heranzugehen. Sie müssen eher ständig das Ganze bewältigen, um sich überhaupt etwas zu erfassen.
Frage: Warum eignen sich spirituelle Orte für Sie als immersive Räume?
Antwort: Ich bin selbst ein religiöser Mensch und arbeite oft in spirituellen Räumen: in einer Moschee in Baku in Aserbaidschan, in Sankt Peter in Köln oder im Baptisterium zum Taufbecken unter dem Kölner Dom. Das Licht, das ich einsetze, hat eine inter- und überreligiöse Bedeutung: Zum ältesten Taufbecken nördlich der Alpen, unter dem Kölner Dom, wird die oktogonale Form des Beckens zur Lichtschablone, die sich langsam rotierend durch den Raum bewegt. Diese immersiven Räume sind keine im Format aufgeblasenen Bilder, sondern es geht auch immer um den Kontext dieser Räume. In religiösen Räumen lässt sich so auch das Bewusstsein ansprechen.
Frage: Wofür würden sich immersive Ausstellungskonzept sonst eignen?
Antwort: Ich sehe die Chance, komplexe, schwierige Entwicklungen zu visualisieren – zum Beispiel den Bereich der Künstlichen Intelligenz. Da haben wir ein großes Defizit. Die meisten Menschen können nur die Begrifflichkeiten beschreiben, wenn überhaupt, aber sie können nicht die Tiefen genauer verorten, die damit verbunden sind. Das könnte man mit begehbaren Räumen erschaffen.
Vor fast 100 Jahren gab es den “Gläsernen Menschen” im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden. Man konnte zum ersten Mal von außen, also durch Ansicht, in den Menschen hineinschauen und hat alle Organe in ihrer Funktion gesehen – das war eine Sensation.
Frage: Wie bewerten Sie den Einsatz von digitalen Medien insgesamt?
Antwort: Ich bin technologiekritisch. Wir sehen, was bei Technologiesprüngen passiert, deren antihumanes Potenzial wir im Moment der Erfindung noch nicht abschätzen können. Beispiel Drohnentechnologie: Im Ersten Weltkrieg – schlimm genug – haben Menschen einander direkt gegenüber gestanden aufeinander geschossen. Das war fürchterlich und unglaublich blutig. Heute steuert jemand in einem Container, 16.000 Kilometer entfernt vom Einsatzort, eine Drohne steuert und entscheidet aufgrund einer Einschätzung von Schatten oder Bewegungen, ob eine Familie, ein Bus, ein Zug, ein Haus weggesprengt wird. Zwischen der Person, die auslöst, und der Person, die betroffen ist, gibt es keine Beziehung mehr.