Als seinen “geistig-politischen Leitstern” bezeichnet Winfried Kretschmann die Philosophin Hannah Arendt. Mit Robert Habeck stellt er sein neues Buch über die deutsch-amerikanische Denkerin vor warnt vor Autokratien.
Für Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist Demokratie gerade durch ihre Vielfältigkeit verletzlich. “Wenn Meinungen an Macht gewinnen, die die Freiheit ausschalten wollen, ist Demokratie ein prekäres Projekt”, erläuterte der Grünen-Politiker am Freitagabend in Stuttgart. Der 77-Jährige stellte mit seinem Parteifreund, Ex-Vizekanzler Robert Habeck, sein neues Buch über die jüdische Philosophin Hannah Arendt vor.
Im überfüllten Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof der baden-württembergischen Landeshauptstadt warnte Kretschmann vor Lügen in der Politik und mangelnder Kritik daran. “Wenn man lügen kann, ohne sanktioniert zu werden, geht es ans Eingemachte”, sagte er. Ihn wundere, dass kaum jemand den US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump wegen seines Klimaleugnens kritisiere. Dabei haben nach Arendts Sicht Tatsachen für die Politik eigentlich etwas Despotisches, da man sie berücksichtigen müsse. Habeck ergänzte, es stelle sich im Politischen die Frage: “Sollen wir auch Arschlöcher sein, weil es ja erfolgreich zu sein scheint?”
In dem Buch “Der Sinn von Politik ist Freiheit. Warum Hannah Arendt uns Zuversicht in schwieriger Zeit gibt” stimmt Kretschmann Arendts Machtbegriff zu, nach dem Macht entsteht, wenn Menschen gemeinsam handeln. “Welcher Diktator ist je von sich aus an die Macht gekommen?” Trump komme nur an die Macht, weil er gewählt werde. “Ohne den Zuspruch von vielen kann man nicht in den Bereich gelangen.” Zugleich bedeute Macht auch Gestaltungsmacht für eine bessere Gesellschaft.
Die deutsch-amerikanische Philosophin und Publizistin vertritt aus Habecks Sicht ein positives Verständnis von Macht. Sie nehme Macht nicht als etwas Abstraktes wahr, sondern anhand konkreter Phänomene in der Wirklichkeit. Habeck liest aus Arendt, dass totalitäre Regime aus Vereinsamung entstünden, weil sich Menschen als ohnmächtig empfänden.
Arendt hat Kretschmann nach dessen Einschätzung geholfen, sich in den 1970er Jahren von totalitaristischen, linksradikalen Ideen zu lösen. Sie sei sein “geistig-politischen Leitstern”, die Lektüre ihrer Werke sei befreiend gewesen. Auch Habeck bekannte sich zur einer besonderen Beziehung zu Arendt: “Für mich war sie immer da, aber ich habe mich mit ihrem Counterpart, Martin Heidegger, beschäftigt.” Dessen Geliebte war sie zeitweilig, obwohl er dem Nationalsozialismus nie abgeschworen hatte, während sie Jüdin war und vor den Nazis in die USA emigrierte.
Kretschmann regiert als Ministerpräsident von Baden-Württemberg seit Mai 2011. Mit ihm wurde zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein Grüner Ministerpräsident eines Bundeslands. Der Politiker wurde zweimal wiedergewählt. Bei der Landtagswahl im März kandidiert er nicht mehr.