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Kirchenjurist Schüller: Orte institutioneller Nächstenliebe nötig

Der katholische Kirchenrechtler Thomas Schüller begleitet seit Jahren innerkirchliche Debatten mit kritischen Zwischenrufen. In einem Buch plädiert er für eine stärkere Trennung von Staat und Kirche. Der Glaube solle aber nicht aus der Öffentlichkeit verschwinden, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es brauche zudem „Orte der institutionellen Nächstenliebe“. Auch als soziale Träger seien die Kirchen kaum zu ersetzen.

epd: Warum müssen Staat und Kirche sich überhaupt trennen?

Thomas Schüller: Um der Freiheit der Kirche willen: Denn beide Kirchen haben vor allem in der frühen Neuzeit schlechte Erfahrungen mit den landesherrlichen Kirchenregimentern gemacht. Aber auch, um der wachsenden weltanschaulichen Pluralität in unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen. Ich bin froh, dass das Grundgesetz eine religionsfreundliche Verfassung ist. Das soll auch so bleiben. Aber während 1949 bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland noch über 90 Prozent der Bürger Mitglied der evangelischen oder katholischen Kirche waren, sind es jetzt nur noch knapp die Hälfte. Das Grundgesetz schreibt zudem auch eine Äquidistanz zu allen Religionsgemeinschaften vor.

epd: Warum haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes für eine Kooperation zwischen Kirchen und Staat entschieden?

Schüller: Zum einen, weil sie allein durch ihre Mitgliederstärke große zivilgesellschaftliche Akteure waren. Zum anderen galten sie aber auch als moralische Instanz und boten ethischen Halt. Beide Kirchen sind bis auf wenige Ausnahmen weitgehend unbeschadet durch die Zeit des Nationalsozialismus gekommen. Außerdem wurden den Kirchen damals vom Staat als freie Träger soziale Fürsorgeaufgaben übertragen: Alten- und Krankenpflege, Schulen, Kindertagesstätten und Jugendhilfe. Sie galten als zuverlässige Partner, weil sie durch die Einnahmen aus der Kirchensteuer auch die staatlich nicht subventionierten Anteile an den Personalkosten übernehmen konnten.

epd: Und heute?

Schüller: Perspektivisch werden der evangelischen und katholischen Kirche 2030 nur noch knapp 35 bis 40 Prozent der Deutschen angehören. Da stellt sich mir die Frage, ob man nicht heute schon überlegen muss, ob die Kirchen ihren gesellschaftlichen Auftrag auch dann noch so leisten können. Und das Gesetz schreibt außerdem eine Diversität bei den freien Trägern der Sozialfürsorge vor, damit auch Menschen, die nicht in einem evangelischen oder katholischen Krankenhaus, einer Kindertagesstätte oder einem Altenheim betreut werden oder auch arbeiten möchten, genügend Möglichkeiten erhalten.

epd: Wie sieht es mit dem politischen Einfluss der Kirchen aus?

Schüller: Bis zur Merkel-Zeit galten die Kirchen als wahlwichtig, weil sie einen großen Teil der Bevölkerung abbildeten. Da hat man schon darauf geachtet, die Meinung der Kirche einzubeziehen. Beispielsweise beim Kompromiss zu Schwangerschaftsabbrüchen, an dem die Kirchen maßgeblich mitgewirkt haben. Das Leben des Kindes wird staatlich geschützt, doch nicht gegen den Willen der Mutter.

Die jetzige Bundesfamilienministerin Lisa Paus hat in die Kommission, die prüfen soll, ob Abtreibungen künftig auch außerhalb des Strafrechts geregelt werden können, nicht einmal mehr Kirchenvertreter eingeladen. Auf der Ebene der Kommunen und der Länder will man hingegen mit den verlässlichen Partnern nicht brechen. Das führt zu einer ambivalenten Situation.

epd: Machen Sie die Relevanz der Kirche an der Zahl der Mitglieder fest?

Schüller: Nein. Das wäre zu simpel. Aber inhaltlich ist doch ein Relevanzverlust zu beobachten. Beispielsweise hat die Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre während des Nato-Doppelbeschlusses schon auch inhaltlichen Einfluss auf die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt gehabt. Bis in die 1990er Jahre hinein wurden die Kirchen politisch für ihre Botschaft vom Evangelium geachtet. Das ist komplett vorbei. Selbst die fromme Pastorentochter Angela Merkel hat bei der Abstimmung über die Ehe für alle den Fraktionszwang aufgehoben und damit die Entscheidung für die gleichgeschlechtliche Ehe möglich gemacht.

epd: Wie sieht es mit der staatlichen Eingriffsrechten in den kirchlichen Bereich aus – etwa, wenn es um Missbrauchsaufarbeitung geht?

Schüller: Die frühere FDP-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberg sprach 2010 von der Kirche als „Staat im Staat“, das hat für einen Eklat mit der Spitze der Deutschen Bischofskonferenz gesorgt. Aber ja: Nach meinem Eindruck haben die Staatsanwaltschaften die Kirchen mit Samthandschuhen angefasst. Das ändert sich nun, wie man in München oder Köln sieht. Es gab eine wechselseitige Übereinkunft, Stillschweigen zu bewahren und sich nicht gegenseitig zu schaden.

epd: Beim Thema Staatsleistungen sind es paradoxerweise die Bundesländer, die mauern. Da sieht man von staatlicher Seite ein Zögern, die Trennung wirklich durchzuziehen.

Schüller: Es gibt seit gut 100 Jahren den verfassungsmäßigen Auftrag, die Staatsleistungen abzulösen. Der Bund muss dafür die Grundsätze aushandeln, die Bundesländer müssen die Kirchen finanziell entschädigen. Die Kirchen sind auch zu den Verhandlungen bereit. Der Bund will ein Grundsätzegesetz verabschieden. Aber vor allem die Ministerpräsidenten von Bayern und Baden-Württemberg, Söder und Kretschmann, sagen, sie zahlen gerne weiter. Das liegt nicht nur an der enormen finanziellen Belastung für die Ablösung, sondern auch daran, dass die Bundesländer weiter mit den Kirchen kooperieren wollen.

Sie sagen, wenn die Kirchensteuereinnahmen ab 2030 um ein Drittel einbrechen, können die Staatsleistungen auch für die Personalkosten zum Betreiben von Schulen und Kitas eingesetzt werden. Bislang zahlen die katholische und evangelische Kirche gut 10 bis 15 Prozent ihrer Kirchensteuereinnahmen für Schulen und Kindertagesstätten. Das sind jährlich einige Millionen.

epd: Gibt es zivilgesellschaftliche Akteure, die die Lücke füllen könnten, die die Kirchen als soziale Träger hinterlassen?

Schüller: Das wird schwer. Es gibt viele, die die Kirchen kritisieren wegen ihrer Marktmacht, aber selbst nicht bereit wären, diese Aufgaben zu übernehmen. Denn es gibt kaum Vereine, Weltanschauungsgemeinschaften oder private Initiativen, die finanziell zuverlässig in der Lage sind, die Verantwortung etwa für eine Kindertagesstätte oder eine Schule zu übernehmen, in dem Umfang, in dem sie das dann müssten. Deswegen sind die Bundesländer ja auch froh, wenn sie die Kirchen als Kooperationspartner behalten können.

epd: Soll denn die Religion auch aus der Öffentlichkeit verbannt werden – etwa wie in Frankreich?

Schüller: Nein. Ich will, dass gläubige jüdische, christliche und muslimische Bürger mit religiösen Zeichen in der Öffentlichkeit erscheinen dürfen. Religion darf irritieren. Religion heißt Unterbrechung. Sie öffnet den Blick zum Himmel und stellt das Säkulare infrage. Ich möchte, dass das bleibt.

epd: Wenn wir ins Jahr 2030 blicken, worauf sollten sich die Kirchen konzentrieren?

Schüller: Priorität hat natürlich die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat, deswegen braucht man eine Infrastruktur, um vor Ort präsent zu sein. Aber gerade dort in den Gemeinden könnte man viel stärker ökumenisch zusammenarbeiten, etwa indem man sich ein Kirchengebäude teilt. Die Immobilienlast erdrückt die Kirchengemeinden buchstäblich. Wir müssen wesentlich markanter und mutiger wieder Zeugnis vom Evangelium ablegen.

Die Kirchen dürfen auch keine Angst davor haben, Einrichtungen wie Kindertagesstätten oder Altenheime aufzugeben. Das bedeutet Abschiedsschmerz. Der Staat wird dann auch sehen, was evangelische und katholische Kirchenmitglieder ehrenamtlich leisten, was staatliche Akteure nur mit hauptamtlichen Mitarbeitern hinkriegen, die aus Steuermitteln bezahlt werden.

epd: An welchen öffentlichen Einrichtungen sollten die Kirchen festhalten?

Schüller: Es braucht Orte der institutionellen Nächstenliebe. Die Kirche sollte sich für Menschen interessieren, für die sich niemand mehr interessiert: Geflüchtete, Obdachlose, Drogenabhängige und Sterbende. Vor allem die christliche Hospizarbeit ist so wichtig. Wir haben eine sehr gute palliative Versorgung in Deutschland, wir müssen die Leute nicht in den Selbstmord treiben. Wir können Menschen in Würde sterben lassen. Damit könnte die Kirche paradigmatisch deutlich machen: Sie steht an der Seite derer, die unter die Räder gekommen sind – gerade da, wo der Staat nicht mehr hilft.