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Kirchen müssen die Stimme erheben

Im Interview mit Uli Schulte Döinghaus spricht Annalena Baerbock (39) über ihre Kindheit, die Rettung und Aufnahme von Geflüchteten, über CO²-Emissionsneutralität in der EKBO und ihre Erwartungen zum Strukturwandel in der Lausitz. Gemeinsam mit Robert Habeck ist Annalena Baerbock Bundesvorsitzende der Grünen. Sie ist seit 2013 – über die Landesliste Brandenburg – Mitglied des Deutschen ­Bundestages. Baerbock lebt mit ihrer Familie in Potsdam.

Frau Baerbock, können Sie uns einen Tipp geben? Anders als die Grünen verlieren die Kirchen sowohl an Mitgliedern als auch an Zustimmungswerten.

(lacht) Mit guten Ratschlägen halte ich mich lieber zurück. Aber aus meiner persönlichen Erfahrung gesprochen: In meinem Landesverband, den Brandenburger Grünen, war die Zahl unserer Mitglieder lange Zeit sinnbildlich an zwei­ ­Händen abzuzählen. Aber wir haben viel Zeit investiert, sind zu den Menschen in den Dörfern und Kommunen gegangen, haben zugehört und waren ­Ansprechpartner für ihre Probleme. So fingen wir an zu wachsen, auch wenn es noch immer Orte im ländlichen Raum gibt, in denen ­engagierte bündnisgrüne Mitglieder weiter ­Einzelkämpfer sind. 

Ich glaube, die Frage der Präsenz ist auch für die Kirchen im länd­lichen Raum eine Herausforderung, wenn Gemeindeglieder aus den ­Dörfern wegziehen oder versterben. Dabei kann gerade die Kirche der zentrale Ort sein, wenn der Dorf­laden, die Arztpraxis oder die Kneipe schließen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass Kirchengemeinden stabile Ankerplätze sind, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Fläche festigen. Vorausgesetzt, es gibt Bezugspersonen – Diakoninnen, Gemeindepädagogen, Pfarrerinnen. 

Sie sind Parteichefin und Bundestagsabgeordnete aus Potsdam, führen ein Bürgerbüro in Frankfurt an der Oder und sind Mitglied der Evangelischen Kirche. Welche Erfahrungen machten Sie in ihrer Kindheit mit der Kirche? 

Ich erinnere mich noch sehr gut an meine Kindheit, als die Diakonin aus unserem Dorf wegging. Da ließ bei mir die Begeisterung für Kindergottesdienste so nach, dass ich damals keine Lust mehr hatte, überhaupt noch zur Kirche zu gehen. Die Kirche braucht Personen, die die Sprache der Jugend sprechen. Es ist halt ein Unterschied, wenn jemand nur mal alle paar Wochen vorbeikommt. 

Ist die Kirche gesellschaftlich laut genug bei Fragen etwa des Klimaschutzes, der Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten, beim Kampf gegen rechts?

Es kommt ja nicht auf die Lautstärke an – gerade bei den Debatten unserer Zeit. Diese sind oft eher zu laut und das trägt zur Polarisierung bei. Für mich kommt es vielmehr auf Sichtbarkeit und Klarheit an. Und ich finde, dass die evangelische Kirche gerade bei der Flüchtlingsfrage sehr klar ist. Zu Recht stehen die Kirchen ja auf einem Fundament von Werten der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Und das auch in den Momenten, in denen diese Werte mit Füßen getreten oder verletzt werden. Die evangelische Kirche – etwa mit dem Seenotrettungsschiff „Sea Watch 4“ – setzt damit für mich ein wahnsinnig starkes Zeichen.

Das empfinden manche als ein­seitigen politischen Akt, der dem Verkündungsauftrag widerspreche.

Ich als Kirchenmitglied habe das Engagement für das Seenotrettungsschiff als richtige Antwort im Sinne der Bergpredigt gesehen. Wenn Nächstenliebe gebraucht wird, sollte sie nicht nur sonntags um 10 Uhr verkündet, sondern auch täglich gelebt werden. 

Bei der Pandemiebekämpfung schien es bisweilen so, als ob jedes Bundesland, wenn nicht sogar jeder Landkreis, eigen­ständig handeln kann. Warum nicht auch dann, wenn Flüchtlinge aus den griechischen Lagern unter­gebracht werden?

Flüchtlingsschutz, bei dem es ja auch um Staatsbürgerschaftsrecht und das Grundrecht auf Asyl geht, ist in erster Linie Angelegenheit des Bundes. Das darf aus meiner Sicht aber nicht bedeuten, dass Gemeinden, die sich besonders engagieren, keine Flüchtlinge aufnehmen können. Deshalb machen wir Grüne uns so stark für Landesaufnahmeprogramme in den Bundesländern, um Menschen aus katastrophalen Zuständen wie dem Lager Moria auf Lesbos, herauszuholen. Warum der Bundesinnenminister dies nicht ­unterstützt, verstehe ich nicht.

Vom Staat beziehen die Kirchen in Deutschland mehr als eine halbe Milliarde Euro jährlich, weil vor 200 Jahren Kirchen und Klöster enteignet wurden. Ist das noch zeitgemäß?

Das hatte damals durchaus seinen Sinn, aber schon in der Weimarer Verfassung wurde ja beschlossen es auslaufen zu lassen. Mehr als hundert Jahre später ist es nun wirklich Zeit, diese Staatsleistungen zu beenden. Sie widersprechen dem Neutralitätsgrundsatz des Staates. Wir haben deshalb – zusammen mit der Linkspartei und der FDP und nach Gesprächen mit den Kirchen – einen Antrag im Bundestag vorgelegt, wie man diese Staatsleistungen ablösen könnte. Das bedeutet nicht, dass es keine Finanzierung mehr gibt, sondern dass stattdessen einmalig beziehungsweise in Raten eine Gesamtsumme zur Verfügung gestellt wird, die die Kirchen dann selbst verwalten. Damit können die christlichen Kirchen mit ihren diakonischen und karitativen Institutionen auch zukünftig ihren wichtigen Beitrag für unseren Sozialstaat leisten. 

Jetzt schickt sich die Evangelische Kirche in Berlin, Brandenburg und der schlesischen Oberlausitz (EKBO) an, Millionen Euro in ihre eigene Klimaneutralität zu investieren. Ziel ist, innerhalb von 30 Jahren die kirchlichen Kohlendioxidemissionen um rund 900000 Tonnen auf Null zu ­senken. 

Das entspricht den Zielen des ­Pariser Klimaschutzabkommens, wozu sich ja alle weltweit verpflichtet haben. Ich finde es bemerkenswert, dass die EKBO damit klimaneutral werden will. In einer Region wie der Lausitz, wo es jahrzehntelang zur Frage der Identität gehörte, Strom aus Kohle zu produzieren, ist es ein zukunftsorientierter Schritt der Kirche, Strom aus Erneuerbaren Energien zu beziehen, Gemeinde­gebäude und Kirchen klimaeffizient zu dämmen und zu Aufforstungs­projekten einen Beitrag zu leisten. 

In Brandenburgs Dörfern trifft die Energiewende nicht selten auf ­Widerstand, dem sich auch Christinnen und Christen anschließen, etwa Gemeindekirchenräte. Viele befürchten zum Beispiel, dass Windräder mitten in die Wälder gebaut werden sollen.

Ja, ich verstehe die Sorgen. Wälder stiften Identität und Klimaschutz wäre ohne Wälder nicht denkbar. Allerdings ohne Windräder auch nicht. Ein Windrad wird ja auch nicht in jahrhundertealten Wäldern gebaut, sondern wenn überhaupt stehen einzelne Windräder vor allem in reinen Mono-Kultur-Nutzwaldforsten – welche ja eh von Zeit zu Zeit gerodet werden. Wenn man prinzipiell keine Windkraft will, muss man aber auch sagen, woher die Energie sonst ­kommen soll. Etwa weiter aus gefährlicher Atomkraft oder klimaschädlicher Kohleverstromung?

Für den Strukturwandel, der damit einhergeht, sollen besonders in der Lausitz zweistellige Milliardeninvestitionen eingesetzt werden. In Cottbus entsteht Europas modernstes Bahnwerk zur Instandhaltung von ICE und Umrüstung von Dieselloks und eine Medizinische Hochschule, städtische Mittelpunktzentren. Kommen die ländlichen Regionen zu kurz?

Nein. Ziel der Strukturentwicklung in der Region ist es doch, Arbeitsplätze zu schaffen, die zukunftsfähig sind. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Ansatzpunkte wie zum Beispiel das neue Bahnwerk in Cottbus. Es gilt aber auch, das Knowhow der Kraftwerksingenieure aus der Region zu nutzen für die klimafreundliche Energiegewinnung in der Lausitz. Daneben wird es regionale Klimaschutzprojekte in Brandenburg geben, zum Beispiel den Umbau von Kiefernwäldern, die von Zerstörung bedroht sind, zurück zu naturnahen, hochwertigen Mischwäldern.