Nie Urlaub, keine Ausflüge, manchmal nicht einmal genug zu essen: Die Kinderarmut hat in Deutschland einen Rekordwert erreicht – mehr als jedes fünfte Kind ist demnach betroffen. Ein Besuch beim Kinderhilfswerk “Arche”.
Lilly, sieben Jahre alt, blond und blaue Augen, hat ihren Berufswunsch fest vor Augen. “Lehrerin will ich werden. Dann kann ich den Kindern beibringen, wie man arbeiten geht”, sagt das Mädchen, das zu seiner Leggings ein langes Sweatshirt mit Comic-Aufdruck trägt. Sie freut sich, interviewt zu werden. Mit vorsichtigen Fingern streichelt sie den weichen Wollmantel der Fragestellerin.
Lilly ist in Marzahn-Hellersdorf zu Hause: Wer aus Berlins Mitte dorthin fährt, ist mit der Tram eine halbe Stunde unterwegs. Vorbei geht es an grauen Plattenbauten und Hochhäusern. Ein gleichförmiges Gebäude steht neben dem nächsten, Fensterfronten blicken auf schnurgerade Straßen.
Zusammen mit Angelina und Luisa besucht Lilly regelmäßig “die Arche”, eine Hilfseinrichtung für Kinder, die in einer ruhigen Seitenstraße liegt. Die Arche – in der Bibel bekanntlich das Schiff, das Noah und den Tieren inmitten der Sintflut einen sicheren Unterschlupf gewährte. Das will das Kinder- und Jugendhilfswerk auch sein: ein Rettungsplatz, ein sicherer Hort, wenn ein Kind im Leben unterzugehen droht. 6.000 Kinder werden laut Angaben bundesweit betreut. “Ich male und singe hier und bastele und spiele”, sagt Lilly.
Der ehemalige Jugendpastor Bernd Siggelkow hat das Hilfswerk vor fast 30 Jahren gegründet, um Kindern zu helfen – und darüber jetzt ein Buch geschrieben: “Das Verbrechen an unseren Kindern” heißt es. Darin fordert er mehr gesellschaftliche Hilfe für arme und vernachlässigte Kinder, vor allem aber mehr Unterstützung für Schulen, um allen Kindern die gleichen Chancen zu ermöglichen.
“Ich bin selbst bin in Armut und emotionaler Armut aufgewachsen. Ich wusste nicht, was Liebe ist, ich saß nie bei meinen Eltern auf dem Schoß”, sagt er rückblickend. Auch wegen seiner eigenen Geschichte sei es zu seinem Lebensinhalt geworden, “etwas für Kinder zu tun. Sie haben in unserer Gesellschaft keine Lobby, für sie und ihre Rechte geht niemand auf die Straße.”
In Berlin-Hellersdorf werden auf 3.500 Quadratmetern in einer ehemaligen Schule mehr als 1.000 Kinder betreut – vom Kleinkindalter bis zu 17 Jahren. Es gibt eine warme Mahlzeit, Hilfe bei den Hausaufgaben, Freizeitangebote. “Hallo Bernd, das Brot”, witzelt ein kleiner Junge im Aufenthaltsraum im Vorbeigehen und drückt den 60-jährigen Gründer schnell einmal an sich. “Für mich ist die Arche wie eine Familie”, sagt Siggelkow.
Wer hier im Nordosten der Stadt lebt, muss meist mit weniger Geld zurecht kommen als anderswo in der Hauptstadt. Die Einkommen sind niedrig, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Viele holen sich ihr Essen von der Tafel des Bezirks, die aber zur Zeit einen Aufnahmestopp hat – wegen der hohen Inflation. “Die kommen jetzt zu uns, in die Arche”, berichtet Siggelkow. Er mag den Bezirk, die Mieten seien günstig. “Allerdings gibt es ein Problem mit Rechtsradikalismus.”
Kinder, die hier zur Arche kommen, wissen, dass man für viele schöne Dinge Geld braucht. Und dass man so wenig Geld haben kann, dass die Organisation des Alltags zu einem großen Problem wird.
Vier Generationen dauere es in der Regel, um aus der Armut herauszukommen, sagt Siggelkow. Das liegt auch an fehlender Bildung der Eltern: Unter Kindern und Jugendlichen von Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss liegt laut Statistischen Bundesamt die Armutsgefährdungsquote bei 37,6 Prozent, von Eltern mit höherem Bildungsabschluss bei 6,7 Prozent. Nach aktuellem Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes ist mit 21,8 Prozent mehr als jedes fünfte Kind von Armut betroffen. “Bei uns gibt es Kinder, die wissen schon in der fünften Klasse, dass sie irgendwann Bürgergelbezieher werden”, sagt Siggelkow.
Luisa, ein schmales Mädchen von neun Jahren mit Sommersprossen, sitzt im Aufenthaltsraum mit Lilly am Maltisch. Sie erzählt von ihrem Leben und ihren Nachmittagen in der “Arche”. “Ich habe hier Freunde. Und zu Ostern verreisen wir mit der Arche – an die Ostsee.” Vergangenes Jahr war sie zum ersten Mal dabei, ihr erster Urlaub überhaupt. Dass sie neun Geschwister hat, berichtet sie ganz leise. Warum sie darüber nicht gern spricht? “Alle finden das komisch”, sagt das Mädchen verlegen. Ähnlich ist es bei Freundin Angelina, kurze Haare und Brille. Sie sind zu neunt zu Hause, die älteste Schwester ist schon ausgezogen und hat ihr eigenes Baby.
“Wir haben hier einen sehr hohen Anteil an Teenagerschwangerschaften”, sagt Siggelkow. “Die Liebe, die die Mädchen nicht bekommen, versuchen sie durch ein Baby auszugleichen.”
Eine Rechnung, die oft nicht aufgeht: Viele alleinerziehende Mütter leben in Marzahn-Hellersdorf. Viele schicken ihre Kinder in die Arche. “Man kennt uns hier im Bezirk, die Menschen kommen von sich aus”, sagt Siggelkow.
Die Mutter der 15-jährigen Iga etwa sah die Einrichtung vor neun Jahren vom Hochhausbalkon – und meldete ihre Tochter an. “Damals hat meine Mutter mich hier angemeldet, weil ich kaum rausgegangen bin. Sie dachte, ich muss mal was Schönes haben. Hier habe ich Freunde gefunden und bekomme Hilfe, wenn ich Stress habe. Meine Eltern haben keine Zeit zuzuhören, weil sie viel um die Ohren haben”, sagt Iga.
Zusammen mit Freundin Vanessa sitzt sie im Jugendbereich der Einrichtung. Ein paar Jugendliche auf dem Sofa chatten am Smartphone. Andere spielen Tischtennis oder Billard. “Die Arche ist eine Auffangstation für Kinder, die arm sind”, sagt Vanessa. Und Iga ergänzt: “Die Arche hilft den Kindern, von unten nach oben zu kommen.”
Es ist leise in der gesamten Einrichtung, ruhig und friedlich. Das liegt auch daran, dass es hier feste Regeln gibt. Ein Aushang macht darauf aufmerksam, dass Gewalt, Mobbing und Drogen verboten sind. Dass Schulschwänzer nicht in die Arche kommen dürfen. Dass Deutsch gesprochen werden muss.
Obwohl es eine christliche Einrichtung in Trägerschaft der evangelischen Kirche ist, kommen auch viele Muslime hierher. Dies sei vielleicht für viele Familien vertrauenserweckender, “als wenn man gar keinen Glauben hat”, sagt Siggelkow. Das Christentum kommt hier eher durch die Hintertür: Er frage nicht ab, wer an Gott glaube – das sei weder bei seinen Mitarbeitern noch bei den kindlichen Gästen eine Bedingung. Vielmehr versuche er mit seiner Arbeit den Kindern zu vermitteln, “dass Gott an Dich glaubt”.
Eine Geschichte ist Bernd Siggelkow besonders in Erinnerung geblieben: “Wir haben einmal einem neuen Mädchen zum zwölften Geburtstag etwas geschenkt, daraufhin fing es an zu weinen und sagte: Seitdem ich sechs Jahre alt bin, vergessen meine Eltern, dass ich Geburtstag habe.” Seitdem feiert die Arche regelmäßig die Geburtstagskinder des jeweiligen Monats.