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Junge Deutsche entdecken alte Werte

Heranwachsende ticken anders – das war schon immer so. Aber die Zeit des großen Aufbegehrens gegen das Überkommene scheint vorbei: Die Jugend in Deutschland rückt näher zusammen; man „möchte sein wie alle“. Auch der Glaube spielt eine Rolle

timonko - Fotolia

Von Uli Schulte-Döinghaus

Wie religiös sind die Jugendlichen heute? Haben sie überhaupt etwas mit der Religion am Hut, mit Kirche, Glauben, Gottvertrauen? Auf diese zugegeben pauschalen Fragen (wer sind überhaupt: die Jugendlichen?)  gibt es zwei grundlegend pauschale Antworten.

Ich glaube: fest, ein bisschen. Oder gar nicht

Die eine mag das Herz der Theologen, kirchlichen Öffentlichkeitsarbeiter und evangelischen Jugendreferenten erwärmen: Unter den Jugendlichen, die in Deutschland leben, überwiegt mit 29 Prozent die Zahl derer, die an einen persönlichen Gott glauben, alle anderen Gruppen. Die Religionsfernen machen „nur“ ­­26 Prozent aus, die Unsicheren bringen es auf 23 Prozent und die Religiösen, die zwar nicht an Gott als Person, aber zumindest an eine höhere Macht glauben, repräsentieren 23 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12 bis 25 Jahren.
Soweit die einigermaßen gute Nachricht. Und die schlechte? An Gott zu glauben, das war für die Lebensführung der 12- bis 25-Jährigen selten so unwichtig wie heute: 33 Prozent der jungen Menschen halten den Glauben an Gott für lebenswichtig. Hingegen stufen 63 Prozent diesen Glauben für ihr Leben als unwichtig (17 Prozent) oder „teils-teils“ (46 Prozent) ein.
Diese Nachrichten sind aus einem Zahlenwerk destilliert, das als „17. Shell-Jugendstudie“ bekannt ist. Die aktuelle Jugendstudie 2015 stützt sich auf eine repräsentativ zusammengesetzte Stichprobe von 2558 Jugendlichen im Alter von zwölf bis 25 Jahren aus den alten und neuen Bundesländern, die von Interviewern des Meinungsforschungsinstituts „TNS Infratest“ zu ihrer Lebenssituation, ihren Einstellungen und Orientierungen persönlich befragt wurden. Diese Jugendstudien, die vom Unternehmen „Shell“ finanziert werden und in der Fachwelt einen guten Ruf genießen, werden seit 1953 in regelmäßigen Abständen durchgeführt – sie sind damit eine wertvolle Langzeitbetrachtung.
Der promovierte Sozialwissenschaftler Thomas Gensicke (53) war im Rahmen der jüngsten Shell-Jugendstudie für den Studienteil zur Werteorientierung verantwortlich, erarbeitete mit dem Team der Studie Fragen und Interviews, wertete die Ergebnisse aus und präsentiert und diskutiert seither alles, was der Jugend von heute „wert“voll ist, also auch die Glaubens- und Gretchenfragen nach der Religion. Einerseits, so Gensicke, wollen sich Jugendliche heute so intensiv wie seit 20 Jahren nicht mehr für soziale, kulturelle, ökologische Belange engagieren. Fast zwei von drei Jugendlichen (62 Prozent) halten es für wichtig, „Sozial Benachteiligten und gesellschaftlichen Randgruppen“ zu helfen.
Dazu zählt auch die Bereitschaft, Einwanderern und Flüchtlingen zu helfen. Anfang 2015, also am Beginn der jüngsten Welle der Zuwanderung, war die Bereitschaft Jugendlicher zur Aufnahme von Flüchtlingen höher denn je in den letzten 13 Jahren. Auch wenn sich die Stimmung im Lande  inzwischen eingetrübt hat, bleiben Jugendliche die Altersgruppe, die wegen des von Kindheit an gemeinsamen Aufwachsens mit den Migranten am gelassensten mit der Zuwanderung umgeht.
„Eine aufgeschlossene, weltoffene und engagierte Jugend“, resümiert der Sozialwissenschaftler Gensicke, „die sich für Migranten engagiert, aber verlangt, dass ‚Standards‘ des Landes geachtet werden“. Dazu gehören neben dem zivilisierten Umgang auch die Ordnung und Sicherheit der Gesellschaft, die Jugendliche zunehmend wieder wichtig nehmen.

Der Trend: weltoffen und zugleich patriotisch

Denn: Die so engagierte wie weltoffene Jugend ist zugleich patriotisch eingestellt und hat sich zunehmend klassischen Werten zugewandt, etwa Familie und Ehe, heimatliche Verwurzlung, die viele Beobachter eigentlich schon in der sozialkulturellen Mottenkiste wähnten. „In punkto Wertewandel können wir derzeit eine ‚Modernisierung des Klassischen‘ beobachten“, sagt Gensicke über eine Jugendgeneration, die dabei ist, die einst geschmähten deutschen Tugenden neu zu interpretieren und modern anzureichern.
Diese Wertesynthese (Gensicke) aus klassischen Tugenden – Fleiß, Pflicht und Ordnung –  mit Kreativität, Lebensfreude und Soziabilität resultiert auch aus einer besonderen deutschen Erfahrung: „Man darf nicht vergessen, dass die Jugendlichen in der letzten Zeit eine Welle des Erfolgs ihres Heimatlandes erlebt haben.“
Anders als ‚rebellische‘ Generationen – etwa der westdeutschen ‚68er Jugend – sei das Engagement der Heutigen nicht gegen die Gesellschaft gerichtet, nicht gegen das Gerüst der gesellschaftlichen Regeln. Jugendforscher Gensicke: „Jugendliche sind daran interessiert, ihren Platz in einer Gesellschaft zu finden, die sie im Prinzip bejahen. Nicht grundsätzliche Veränderung, sondern wirtschaftliche, soziale und ökologische Optimierung ist ihr Ziel.“
Objektiv betrachtet, wird das Wertesystem der 12- bis 25-Jährigen eigentlich immer christlicher. Andererseits konnten die christlichen Kirchen von diesem interessanten Wertetrend unter den Jugendlichen nicht profitieren. „Es gibt vorerst keine Renaissance des Glaubens“, fasst Thomas Gensicke seine Studienergebnisse zusammen. Sowohl unter den katholischen Jugendlichen als auch unter ihren evangelischen Generationsgenossen sank die Zahl derer, die an einen starken, persönlichen Gott glauben (2015, Evangelische: 26 Prozent; Katholische: 34 Prozent). Dass Religion und Religiösität im Allgemeinen unter vielen Jugendlichen teils skeptisch, teils ablehnend beäugt wird, könne auch mit dem politischen Missbrauch des Glaubens zu tun haben. Aktivitäten von Islamisten und Salafisten färbten über Medienberichte auf die gesamte Wahrnehmung von gläubigen (zumal jugendlichen) Muslimen und ihrer starken Religiösität ab, so Jugendforscher Gensicke.

Christliche Werte – Glaube profitiert davon kaum

Werte zu haben, die mit dem Christentum gut kompatibel sind, seien das eine, glaubt Gensicke. Sie religiös abzustützen, sei das andere. „Kirchen haben nun mal eine spezielle Aufgabe, und die ist erst in zweiter Linie ‚Caritas‘ oder ‚Diakonie‘. Sondern: Ein starker Glaube an Gott als Person, die Erfahrung von Verkündigung, Frömmigkeit, Seelsorge und Gemeinschaft der Gläubigen“ – sie sei so etwas wie eine religiöse Absicherung, wie der Markenkern der christlichen Religionen.
Diesen Kern des Glaubens immer wieder aufs Neue auch in der Jugendarbeit zu vertreten, damit tue sich die Kirche schwer, sagt der Jugendforscher, der seine Thesen aus der Shell-Jugendstudie in den vergangenen Monaten vor vielen katholischen und evangelischen Fachrunden präsentiert hat.