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„Jesus wollte, dass Menschen lebendig sind“

Sein Tonfall ist sanft, seine Kritik jedoch bestimmt. Eugen Drewermann gilt als einer der prominentesten Kirchenkritiker Deutschlands. Auch zu politischen Themen meldet sich der katholische Theologe und Autor zu Wort. Am 20. Juni wird er 75 Jahre alt

Friedrich Stark

Kontakte zu Eugen Drewermann laufen in der Regel über ein Paderborner Hotel in der Nähe seiner Wohnung. Hier sichtet er Faxe und Post, von hier führt er seine Telefongespräche. Internet, E-Mail, Telefon oder gar ein Handy gibt es im Privathaushalt des Autors nicht. Durch die Korrespondenz über das Hotel könne er in Ruhe Gespräche führen, ohne „wie der liebe Gott zu aller Zeit und an allen Orten gegenwärtig sein zu müssen“, erklärt der katholische Theologe und Autor, der am 20. Juni 75 Jahre alt wird.

Die Menschen, die ihm per Brief oder Fax schrieben, hätten sich dann bereits überlegt, was sie wollten. „Das ist für mich überlebenswichtig.“ Überleben scheint für Drewermann nur ein anderer Begriff für diszipliniertes Arbeiten zu sein. Noch sei er gesund, sagt er. „Das sehe ich als Verpflichtung, noch das zu tun, was ich kann.“
Denn eine Art Ruhestand kennt der aus der Kirche ausgetretene katholische Theologe nicht: Es gibt noch so vieles, was er schreiben möchte. Als nächstes Thema hat er sich die Macht der Ökonomie vorgenommen. „Das kommt ein bisschen spät – aber es muss sein.“ Es könne nicht sein, dass Appelle für Frieden, für einen Umweltschutz oder eine gerechtere Gesellschaft daran scheiterten, dass das keinen Profit abwerfe.
Einmal in der Woche steht in der Regel ein Vortrag im Terminkalender. Gerade ist er von einem Podium beim Evangelischen Kirchentag in Stuttgart zurückgekommen. Für die Recherche eines Themas braucht er Zeit zu lesen. Außerdem lässt er es sich nicht nehmen, vielen Briefschreibern zu antworten – persönlich und handschriftlich. Und schließlich empfängt er ab dem späten Nachmittag Patienten, die er als Psychotherapeut behandelt.
Die Themen seiner Bücher und Vorträge reichen über Analysen katholischer Kirchenstrukturen („Kleriker“) über theologische Auslegungen bis zu psychologischen Deutungen biblischer Bilder und Märchen. Er engagiert sich zudem für den Umwelt- und Tierschutz sowie für Friedenspolitik. Auf Ostermärschen oder Veranstaltungen der katholischen Reformbewegung „Wir sind Kirche“ ist er ein gefragter Redner. Die Bewegung würdigte Drewermann einmal als einen der bedeutendsten Theologen der Neuzeit. Sein Kirchenaustritt ändere nichts an seiner Bedeutung für die Theologie. Kritiker werfen dem Autor hingegen vor, mit der Psychologisierung der Politik romantisch-konservative Denktraditionen zu pflegen. Der Schweizer Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik sah bei Drewermann ein Propagandieren von Weltflucht und neuer Innerlichkeit.
Der Mann mit der sanften Stimme und dem Faible für gestrickte Pullover mag heute in der Öffentlichkeit nicht mehr so großen Anstoß erregen wie in den 80er und 90er Jahren, als sein Dienstherr der konservative Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt war und in Rom der spätere Papst Kardinal Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation vermeintliche Abweichler der reinen katholischen Kirchenlehre streng maßregelte.
1991 entzog Erzbischof Degenhardt dem Privatdozenten Drewermann erst die katholische Lehrbefugnis, ein Jahr später dann die Predigtbefugnis. Als Gründe wurden abweichende Ansichten zur Moraltheologie und Bibelauslegung genannt. „Das war alles ein Konvolut an Missverständnissen aufgrund von tradierten Fixierungen“, urteilt Drewermann heute. Seinem Bischof habe er damals gesagt: „Erschafft euch die Ketzer, die ihr braucht, aber das hat mit mir nichts zu tun.“
Sein Leben habe sich durch den Rausschmiss kein Jota geändert, erklärt Drewermann. „Ich habe nie eine Zeile zu Papier gebracht, mit der Frage, was denkt ein Erzbischof oder ein Kardinal in Paderborn oder Rom.“ Zudem fühle er sich privilegiert: „Ich war nie abhängig. Ich war stets frei zu dem, was mir wesentlich war.“ Geändert habe sich jedoch sein Glaube, „ich könnte mit meinem Bemühen um eine Seelsorge, die sich biblisch, aber auch psychologisch tiefer verantwortet, der Kirche nutzen". Er habe nicht begriffen, dass die Befreiung von Menschen als Angriff auf die Kirchenmacht empfunden werden müsse. „Das war eine Illusion, deren Verlust mir wehgetan hat, keine Frage.“
Nachdem er sich Jahrzehnte lang mit den seiner Einschätzung nach krank machenden Strukturen seiner Kirche in Büchern und Vorträgen auseinandergesetzt hat, erklärte er vor zehn Jahren, zu seinem 65. Geburtstag, seinen Austritt aus der katholischen Kirche. Davon sei sein Glaube jedoch nicht berührt, erklärt der Theologe. Im Sinne der katholischen Kirche sei er zwar kein Glaubender. „Ich könnte nicht leben ohne die Botschaft Jesu“, betont er. „Und ich wäre nicht mit der Kirche in Widerspruch geraten ohne die befreiende Lehre Jesu.“ Jesus habe kein Christentum gegründet, keine Konfession eingesetzt. „Er wollte, dass Menschen lebendig sind.“