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„In tiefer Sorge…“

Die Angst vor einem atomaren Wettrüsten bewegte vor 60 Jahren 18 Göttinger Wissenschaftler, sich kritisch zu Wort zu melden. Ihnen folgten andere: zum Beispiel Albert Schweitzer und Hans-Joachim Kuhlenkampff

Plötzlich sind Atomwaffen wieder in aller Munde. Mitte Juni will die Staatengemeinschaft bei den Vereinten Nationen weiter über ein internationales Verbot beraten. Zum Auftakt der ersten Verhandlungsrunde im März hatte Papst Franziskus eine Ächtung als humanitär geboten bezeichnet. Frieden und Stabilität in der Welt könnten nicht auf der „Androhung gegenseitiger Zerstörung oder totaler Auslöschung“ gründen. Deutschland nimmt an den Verhandlungen allerdings nicht teil.

USA setzen weiter auf Massenvernichtungswaffen

In einem Brief an Nichtregierungsorganisationen begründete das Auswärtige Amt die Entscheidung dem „Spiegel“ zufolge damit, dass ein Vertrag wirkungslos bleibe, sofern die Länder mit Atomwaffen nicht eingebunden seien. Zwar teile die Bundesregierung das „Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt“, ein sofortiges Verbot halte sie aber nicht für geeignet.
Unterdessen kündigt US-Präsident Donald Trump an, weiter auf die Massenvernichtungswaffen zu setzen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Aufrüstung in Nordkorea. Das kommunistische Land könnte nach Einschätzung von Experten möglicherweise schon binnen vier Jahren über Atomraketen verfügen, mit denen sich auch US-Ziele treffen lassen.
Die Angst vor einem atomaren Wettrüsten, vor allem aber vor den Folgen eines Nuklearkriegs, trieb vor 60 Jahren auch 18 namhafte Naturwissenschaftler um. „Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministern ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist eine Debatte über diese Frage allgemein geworden." Mit diesen Worten beginnt das sogenannte Göttinger Manifest, das am 12. April 1957 veröffentlicht wurde (siehe Kasten unten).
Zu den Unterzeichnern gehörten die Nobelpreisträger Otto Hahn (Chemie) und Werner Heisenberg (Physik). Treibende Kraft soll Heisenbergs Kollege Carl Friedrich von Weizsäcker gewesen sein. Sie machten mobil gegen die Pläne des da-
maligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer (CDU) und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU). Die wollten militärische Stärke zeigen und „Sowjetrussland“ in Schach halten. Geschehen sollte dies unter anderem mithilfe eigener Atomwaffen, die im Grunde genommen „nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie“ darstellten, wie der Kanzler am 5. April 1957 bei einer Pressekonferenz in Bonn sagte.
Mit Diskussionen hatten Adenauer und Strauß gerechnet – aber wohl nicht mit einer von Wissenschaftlern angefachten Debatte, die bald schon weite Kreise zog. Denn die „Götttinger Achtzehn“ waren nicht die Einzigen, die sich in diesem turbulenten Frühjahr zu Wort meldeten. Stars wie die Schauspielerin Ruth Leuwerik, Showmaster Hans-Joachim Kulenkampff oder Sängerin Lale Andersen sprachen sich öffentlich gegen die Atomrüstung aus. Laut Umfragen teilten 63 Prozent der Bundesbürger diese Ansicht.
Am 23. April 1957 strahlte Radio Oslo schließlich Albert Schweitzers „Appell an die Menschheit“ über mehr als 100 Sender in alle Welt aus. Darin informierte der Arzt und evangelische Theologe die Menschen über die Gefahren radioaktiver Strahlung. Vielen standen auch noch die Schreckensbilder der ersten Atomschläge von Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs vor Augen. Besonders Otto Hahn fühlte sich persönlich schuldig, weil seine Forschungen zur Kernspaltung den Weg zur Bombe geebnet hatten.

Die Bundesrepublik wurde indirekt zur Atommacht

Adenauer reagierte: Er bestellte die Wissenschaftler ins Bundeskanzleramt und las ihnen die Leviten. Doch der Druck der Öffentlichkeit zwang ihn schließlich zumindest zu einem teilweisen Einlenken. Die Bundesrepublik verzichtete letzten Endes auf eigene Atomwaffen; sie wurde aber bereits nach der Nato-Konferenz Ende 1957 indirekt zur Atommacht, weil sie der Stationierung eben dieser Waffen auf ihrem Gebiet zustimmte.
Der Appell aus Göttingen fand in der Folgezeit Widerhall in zahlreichen Initiativen, etwa in dem von der SPD initiierten Komitee „Kampf dem Atomtod“, den Ostermärschen oder der bis heute bestehenden „Vereinigung Deutscher Wissenschaftler“, die sich für „Verantwortung und Nachhaltigkeit" in der Forschung einsetzt.
In den 1970er Jahren rückte nach und nach die friedliche Nutzung der Kernenergie ins Zentrum der Debatte. Für sie hatten sich die Göttinger Wissenschaftler noch ausdrücklich ausgesprochen. Nach Tschernobyl, Fukushima und angesichts maroder Meiler wie Tihange an der deutsch-belgischen Grenze lautet die Parole bei Kritikerinnen und Kritikern  heute allerdings einmal mehr: „Atomkraft? Nein Danke“.