Die von der evangelischen Landeskirche, dem Institut Kirche und Judentum und der Evangelischen Akademie zu Berlin herausgegebene Broschüre „Amen?“ zeigt: Gottesdienste sind jüdisch-christliche Begegnungsräume und Lernorte – auch für mehr Engagement gegen Antisemitismus. Johanna Friese sprach darüber mit der verantwortlichen Redakteurin, Pfarrerin Aline Seel.
Frau Seel, welches Anliegen hat das Heft „Amen?“ als Teil der Postkartenkampagne „Jedes Wir beginnt mit mir“ gegen Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft?In Berlin wurden für 2018 über 1000 Angriffe und Bedrohungen gegenüber Jüdinnen und Juden registriert. Erschreckend ist dabei besonders auch der deutliche Anstieg von gewalttätigen Übergriffen. Unsere Kirche darf nicht wegschauen und muss zugleich selbstkritisch sein: Die Kirchen haben mit ihrer antijüdischen Tradition den Antisemitismus mit befördertWelche Aufgabe verbindet sich mit dieser Erkenntnis?Bei jedem antisemitischen Übergriff müsste ein Aufschrei durch unsere Gemeinden gehen! Dass wir das etwa in den Fürbitten in den Gottesdiensten mit erwähnen, denn es passiert nebenan.Wie hilft die Broschüre den Kirchengemeinden in diesem Zusammenhang? Dass die Gemeinden für sich erst einmal ihre Beziehung zum Judentum klären. Wir sind Geschwisterreligionen und Geschwisterbeziehungen sind komplex. Einerseits ist da eine Geschichte, die von christlicher Gewalt gegen Jüdinnen und Juden geprägt ist, andererseits gibt es so viele bereichernde Verbindungen.
Wie ist das Heft angelegt?Im ersten Teil haben wir Texte zum Antisemitismus, Antijudaismus und zum Stand des jüdisch-christlichen Gespräches zusammengestellt. Im zweiten Teil gehen wir den Gottesdienst entlang – vom Votum über die Psalmen, Abendmahl, Gebete, bis hin zum Segen. Jeder Text zeigt Elemente judenfeindlicher Tradition auf, aber auch Chancen positiver Begegnung mit dem Judentum. Wir wollten leicht verständlich und praxisorientiert sein.
Warum haben Sie den Gottesdienst als Praxisfeld ausgewählt?Für mich ist Liturgie ein Ort, mich mit meinem eigenen Glauben auseinanderzusetzen. Und mir liegt daran, dass wir die Themen des jüdisch-christlichen Gespräches wirklich auf unseren Glauben beziehen – es geht um Herzensbildung! Gottesdienste sind in Gemeinden Herzensangelegenheit, ein guter Ansatzpunkt also. Wir wollten eine Broschüre machen, die Menschen betrifft und neugierig macht.Wonach fragen Menschen besonders gern?Zum Beispiel nach unserem Glaubensbekenntnis: Es kommt ohne einen Bezug zum Judentum aus. Im Heft drucken wir eine Alternative, das Glaubenslied von Gerhard Bauer mit dem Text: „Wir glauben, Gott hat ihn erwählt, den Juden Jesus für die Welt.“ Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben aus der Erfahrung des kirchlichen Versagens gegenüber dem Judentum.Würden Sie das Lied dem klassischen Credo vorziehen?Nicht jeden Sonntag, das mache ich auch nicht, aber ab und zu, das lässt Menschen schon aufhorchen.Welche Themen finden Sie noch besonders wichtig? Unsere Lesungen aus der hebräischen Bibel werden auch heute in den Synagogen gelesen und ausgelegt. Wir können viel lernen vom jüdischen Umgang mit der Schrift. Ich wünsche mir eine demütige und keine überhebliche Theologie. Eine, die sagt, wir sind nicht die einzigen auf der Welt. Dass Gott mehrfach mit gleicher Liebe liebt, das ist doch bereichernd. Im Heft haben wir die Rubrik „zuhören“, da schreiben Jüdinnen und Juden über ihren Glauben.Welche Effekte wünschen Sie sich bei den Lesenden?Predigtreihen oder Gemeindeabende zum jüdisch-christlichen Gespräch, bewusst thematisch orientierte Gottesdienste – und überhaupt: Dass wir wirklich reden über das, was wir glauben. Die neuen Mitglieder der Gemeindekirchenräte bekommen im Herbst so ein Heft, eine tolle Gelegenheit, in den Gremien wirklich theologisch zu arbeiten. Warum heißt das Heft „Amen?“?Juden wie Christen schließen ihre Gebete mit dem hebräischen Wort Amen. Hier sind wir verbunden. Aber ist es dasselbe Amen? Und können wir ein „Amen“ unter das jüdisch-christliche Gespräch setzen? Viele Fragen sind noch offen.Seit anderthalb Jahren gehen Sie mit jüdisch-christlichen Themen in Kirchengemeinden, wie läuft es?Es macht Freude. Ich bin immer wieder berührt, wie engagiert, offen und neugierig Menschen sind. Viele lässt der zunehmende Antisemitismus nicht kalt. Und: Schnell geht es um den eigenen Glauben in sehr persönlichen Gesprächen.Also bringen diese Themen einen auch persönlich weiter?Sehr. Ich wäre gar nicht Pfarrerin geworden ohne das christlich-jüdische Gespräch. Über das Verhältnis von Glaube und Tun etwa kann man vom Judentum sehr viel lernen.Aline Seel ist Pfarrerin am Institut Kirche und Judentum und in der Evangelischen Luisen-Kirchengemeinde. Sie ist Mitglied im Vorstand der AG Juden und Christen beim DEKT.
Broschüre: „Amen?“