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Gefangen in der Sicherheit

Sein Leben ist in diesen Wochen einsam und eingeschränkt: Achmed lebt in der Marienkirche in Minden. Dort gewährt ihm die Kirchengemeinde Kirchenasyl. In seiner Heimat im Irak werden Jesiden wie er verfolgt. Doch nun soll Achmed ausgewiesen werden.

Die Treppen von der oberen Altstadt traut sich Achmed nicht hinab – obwohl sie noch zum Kirchengelände gehören. Von der Anhöhe, auf der die Kirche liegt, kann er auf das rege Treiben in der Fußgängerzone schauen. Betreten darf er sie nicht. Wenn er frische Luft schnappen will, bleibt er auf dem Kirchhof, im Schatten des fast 800 Jahre alten Turms. Achmeds Welt ist klein geworden: Seit Mitte Januar lebt er auf dem Gelände der Mindener Marienkirche im Kirchenasyl.

Das Alleinsein ist eine Herausforderung

Es ist ein einsames Leben, auch wenn die Familienmitglieder, die als anerkannte Flüchtlinge in der Weserstadt leben, ihn immer wieder besuchen. Denn da sind die langen Stunden, die er allein in einem karg möblierten Raum verbringt. Und da sind die Nächte, in denen er nur schwer in den Schlaf findet, oft aufwacht. Denn da sind diese Bilder von jenem 3. August 2014, als IS-Truppen seine Heimatstadt Sindschar (Irak) angriffen. Tausende jesidische Jungen und Männer wurden in Folge der Angriffe getötet. Jesiden, wie Achmed und seine Familie es sind. Tausende Mädchen und Frauen wurden verschleppt und versklavt, darunter zwei Schwestern und die Großmutter Achmeds. Von ihnen fehlt bis heute jede Spur.

Als Achmed, der aus Sicherheitsgünden seinen Nachnamen nicht nennen soll, bei der Marienkirche um Kirchenasyl bat, traf das Presbyterium die Entscheidung einstimmig: Achmed sollte eine Chance bekommen, nicht nach Italien überstellt werden, wo er auf seiner Flucht zum ersten Mal europäischen Boden betrat, wo wegen der Dublin-Verträge sein Asylverfahren beschieden werden müsste. Mit dem Kirchenasyl stellt sich die Gemeinde zwischen ihn und die zuständigen Behörden. Die Grundlage dafür ist eine Vereinbarung zwischen dem Bundesinnenministerium und den Kirchen. In einem Dossier wird sein Fall dem Bundesamt für Migration nun zur erneuten Prüfung vorgelegt.

Unterstützung bekommt die Gemeinde bei diesem Prozess von Pfarrer Helge Hohmann vom Institut für Kirche und Gesellschaft der westfälischen Landeskirche. „Das ist ein unglaublicher Aufwand für die Gemeinden“, sagt der Experte für Kirchenasyl. Es ist eben nicht nur die Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten – neben der Erstellung des Dossiers, für das alle wichtigen Papiere zusammengetragen werden müssen, gibt es viele weitere Dinge zu beachten – zum Beispiel, dass Flüchtlinge im Kirchenasyl nicht krankenversichert sind. Die medizinische Versorgung übernehmen in solchen Fällen meist ehrenamtliche Mediziner oder Psychologen aus der Gemeinde – so auch in Minden.

Für Pfarrer Frieder Küppers ist die Sachlage klar: Er ist überzeugt, dass Achmed in Italien Gefahr droht – nicht zuletzt, weil deutsche Gerichte in den vergangenen Wochen immer wieder entschieden haben, dass „verletzliche Personen nicht nach Italien abgeschoben werden dürfen“. Der Grund: Ende des vergangenen Jahres trat dort das nach dem rechtspopulistischen Innenminister Matteo Salvini benannte Dekret in Kraft. Nun drohen Achmed in Italien mehrere Wochen Obdachlosigkeit – oder schlimmer: Die Unterbringung in einem der neu eingeführten Sammellager, in denen ihm als Jeside die Verfolgung wegen seines Glaubens durch radikale Muslime droht.

Im August 2018 war er gemeinsam mit seinem Bruder in Minden angekommen, hier, wo nach ihrer Flucht 2014 zunächst sein Vater und eine Schwester Schutz fanden. Hier, wo dank der Nachzugsregelung dann später ein großer Teil seiner Familie ebenfalls in Sicherheit lebt. Nicht aber Achmed und sein Bruder: Weil sie über 18 Jahre alt sind, mussten sie im umkämpften Nordirak bleiben, wo das Überleben kaum möglich war. Schließlich machten sich die beiden traumatisierten jungen Männer auf eigene Faust auf den Weg. Sie schafften es zunächst nach Italien, dann weiter nach Deutschland – bis nach Minden, zu ihrer Familie. Sein Bruder ist in einer psychiatrischen Klinik stationär untergebracht. Doch Achmed soll nun ausreisen.
„Wenn es ein christlicher Wert ist, den Zusammenhalt der Familie zu stärken – in diesem Fall eine Familie, die nicht zuletzt aus therapeutischer Sicht zusammengehört – dann kann das nicht mit unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung zusammenpassen“, sagt Frieder Küppers. Denn über die Gefahren, die Achmed in Italien drohen, fürchtet der Pfarrer auch um die seelische Gesundheit seines Schützlings: Ein Psychiater hat in einem Gutachten die psychische Belastung Achmeds bestätigt. Müsste er völlig isoliert in Italien leben, nähme das kein gutes Ende, ist Frieder Küppers überzeugt. „Und wir gehen davon aus, dass sich das Bundesamt für Migration unserer Auffassung anschließen wird.“

Eine Erwartung, die Helge Hohmann nicht unbedingt teilt. „90 Prozent der Dossiers werden abgelehnt“, zieht er Bilanz: „Die Erfahrungen der Kirche mit der Kirchenasyl-Vereinbarung sind negativ. Wir haben eher den Eindruck, dass das Bundesamt für Migration eine ganz andere Einschätzung als die Kirche hat, was ein Härtefall ist und was nicht.“

Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Von den Prozessen im Hintergrund bekommt Achmed wenig mit. Während andere über sein Schicksal entscheiden, sitzt er im karg möblierten Raum auf einem grauen Schlafsofa, auf dem sonst Pilger einen Schlafplatz finden. „Ich habe Angst, dass ich nach Italien muss“, sagt er über einen Bekannten, der besser Deutsch spricht als er. Und dann: „Ich habe Angst, dass ich mir etwas antue.“ In den Händen dreht er sein Smartphone, seine einzige Verbindung nach draußen. Neben dem kleinen Büchlein, mit dem er Deutsch lernt ist es sein einziger sichtbarer persönlicher Besitz im Raum. „Ich bin der Kirche sehr dankbar“, fährt er fort. Und sagt, dass er auf eine Perspektive hofft. Er möchte lernen, arbeiten. „Aber ich bin hier wie ein Gefangener.“