Boykott, Konflikte, Armut und Hunger: Die Erwartungen an den Gipfel der mächtigen Staatenlenker in Johannesburg sind nur gering. Für Kanzler Merz ist es eine Premiere.
Der G20-Gipfel in Südafrika wird von Krisen und geopolitischen Spannungen überschattet. Staats- und Regierungschefs der 20 großen Industrie- und Schwellenländer finden sich am Wochenende in “Jozi” – so der Spitzname der einst durch den Goldbergbau entstandenen Stadt – zu ihren jährlichen Beratungen ein. Erstmals nimmt auch Kanzler Friedrich Merz (CDU) teil. Doch ausgerechnet das Land, das von Südafrika die nächste G20-Präsidentschaft übernehmen soll, wird nicht vertreten sein: die USA.
Präsident Donald Trump bleibt dem ersten G20-Gipfel auf dem afrikanischen Kontinent demonstrativ fern und schickt nicht einmal eine Delegation – eine beispiellose Brüskierung in der Geschichte des einflussreichen G20-Forums. Sein Boykott unterstreicht Trumps angespanntes Verhältnis zu Afrika – und Südafrika im Besonderen.
Die Entfremdung hatte schon früh eingesetzt und wurde für alle sichtbar, als Trump beim US-Besuch des südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa im Mai einen angeblichen schwarzen “Genozid” gegen weiße Farmer beklagte. Dahinter steckten auch Spannungen, weil Südafrika den Schulterschluss mit Russland und China suchte und wegen des Gaza-Krieges Völkermordvorwürfe gegen den US-Verbündeten Israel vor den Internationalen Gerichtshof brachte.
Ende September ließ Trump das 25 Jahre alte Handelsprogramm AGOA auslaufen, das afrikanischen Ländern zollfreien Zugang zum US-Markt gewährte. Dadurch verlieren Länder wie Lesotho, Kenia, Madagaskar, aber auch das ohnehin unter hoher Arbeitslosigkeit leidende Land am Kap viele Jobs.
Doch Nelson Mandelas Regenbogennation lässt sich von den Querschüssen aus Washington nicht beirren, auch wenn die G20 derzeit wenig handlungsfähig erscheinen. Am Ende des Gipfels wird kein gemeinsames Kommuniqué erwartet, sondern nur eine Erklärung des Gastgebers. “Angesichts der Spaltungen in der Weltgemeinschaft wird es schwer sein, die Art von Konsens zu erreichen, dem alle zustimmen”, sagte der in die Vorbereitungen involvierte Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). “Das sind keine normalen Zeiten.”
Für die Bundesregierung ist es schon ein Erfolg, dass sich die Staats- und Regierungschefs “zu diesem Zeitpunkt überhaupt zusammenfinden”, wie informierte Kreise erläutern. Jede Form von Gemeinsamkeit wäre großartig, würde den Multilateralismus stärken, hieß es aus Berlin. Entwicklungsorganisationen mahnen, dass es heute wichtiger denn je sei, dass die G20 mit einer Stimme sprechen und die globalen Probleme anpacken. Immerhin repräsentieren sie mehr als 80 Prozent der Weltwirtschaftsleistung und 75 Prozent des globalen Handels.
Doch gleich mehrere Staatenlenker fehlen. So schließt sich Argentiniens Präsident Javier Milei dem Boykott Trumps an. Auch Mexiko ist nicht durch die Regierungschefin vertreten – aus Solidarität gegenüber Ländern, die nicht eingeladen sind. Russlands Präsident Wladimir Putin bleibt ohnehin daheim. Gegen ihn liegt ein internationaler Haftbefehl wegen seines Angriffskriegs gegen die Ukraine vor. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping schickt immerhin seinen Ministerpräsidenten Li Qiang, der zunehmend wichtige internationale Aufgaben wahrnimmt.
“Südafrikas G20-Präsidentschaft fällt in eine Zeit, in der die Welt mit überlappenden und sich gegenseitig verstärkenden Krisen zu kämpfen hat: der Klimakrise, Ungleichheit, Armut, Hunger – aber auch mit schnellen technologischen Veränderungen”, sagt Friederike Meister, Expertin der Organisation Global Citizen. Mehr denn je herrsche geopolitische Instabilität.
“Wir sehen, dass nicht nur die weltweite Ordnung auseinanderzufallen scheint, sondern können auch von einer gewaltigen multilateralen Krise sprechen”, so Meister. Fünf Jahre vor dem Zieldatum 2030 seien die Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige und gerechte Entwicklung erst zu zwölf Prozent im Zeitplan. “Fast ein Drittel kommt nicht voran oder entwickelt sich zurück.”
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich untergräbt nicht nur Gesellschaft und Demokratie, sondern schadet auch der Wirtschaft. So schlägt eine Expertengruppe unter Führung von Nobelpreisträger Stiglitz die Schaffung einer internationalen Kommission zur Ungleichheit vor. Nach dem Vorbild des Weltklimarates soll sie technische Expertise sammeln.
Stiglitz hofft auf Unterstützung durch Kanzler Merz. Schließlich hat Deutschland im Juni auch die “Globale Allianz gegen Ungleichheit” mitbegründet, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt. “Von daher würde es Deutschland gut zu Gesicht stehen, da jetzt keine Kehrtwende zu machen”, meint Oxfam-Experte Jörn Kalinski. Die Schlussfolgerungen der Stiglitz-Kommission seien noch relativ konservativ und “keine linke Träumerei”; Ungleichheit sei eines der größten Probleme unserer Zeit.
Die Experten schlagen Alarm, weil 83 Prozent aller Länder mit 90 Prozent der Weltbevölkerung die Definition der Weltbank für hohe Ungleichheit erfüllten. Solche Länder hätten eine sieben Mal höhere Wahrscheinlichkeit, demokratische Rückschläge zu erleben. Die Arm-Reich-Schere gehe weiter auf, und weltweit müsse inzwischen jede vierte Person regelmäßig Mahlzeiten auslassen – während zugleich das Vermögen von Milliardären einen historischen Rekord erreiche.