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Furcht vor Fremden steckt „in den Genen“

Sie gehört zum Menschsein dazu – die Angst. Sie hat zwei Seiten: Einerseits können Menschen ohne die Angst nicht überleben, andererseits kann übersteigerte Furcht das Leben massiv beeinträchtigen. Der Psychiater Borwin Bandelow zu den Ängsten der Deutschen

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Furcht vor Terroranschlägen, vor sozialem Abstieg, vor Alter, Einsamkeit, Tod und Verlassen-Werden: Die Liste aller möglichen Ängste ist lang. Der Präsident der Gesellschaft für Angstforschung, Borwin Bandelow (64), sprach mit Nina Schmedding über das „Angst-Gen“ der Deutschen, Angsterkrankungen und warum es von Vorteil sein kann, sich zu fürchten.

Herr Bandelow, Sie haben mehrere Bücher zum Thema Angst veröffentlicht und jahrzehntelange Erfahrung in der Behandlung von Angst-Patienten. Was ist Ihr Fazit: Wird die Angst der Deutschen immer größer?
Nein. Es ist zwar richtig, dass die Zahl der Krankschreibungen wegen Angststörungen in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen ist. Das liegt aber nur daran, dass man früher das Kind nicht beim Namen genannt hat: Aus der Angststörung wurde in der Krankschreibung die Magenverstimmung.
Gestiegen ist die Zahl der Menschen, die Angststörungen haben, also nicht. Das liegt auch daran, dass Angststörungen zu etwa 50 Prozent genetisch bedingt sind und sich damit nicht innerhalb von ein paar Jahren ändern. Umwelteinflüsse wie Alkohol oder emotional belastende Ereignisse spielen eine sehr viel geringere Rolle als man früher angenommen hat.

Haben die Deutschen also eine Art Angst-Gen?
Fest steht auf jeden Fall: Je nördlicher beheimatet, desto ängstlicher sind die Menschen. In Deutschland sind wir also vergleichsweise ängstlich – ein Erbe unserer Vorfahren, das uns noch immer in den Genen steckt. Die ersten Menschen, die während einer Völkerwanderung nach Deutschland kamen, mussten vorausschauend denken können um zu überleben, da die Umgebung so unwirtlich war. Ängstliche Menschen hatten im Norden also einen Überlebensvorteil.
Das zeigt sich heute noch: Die Deutschen planen ihr Leben, schließen verhältnismäßig viele Versicherungen ab. Im Süden, etwa in Kairo, ist das noch heute ganz anders. Ein Blick in den Straßenverkehr reicht um zu sehen, dass die Menschen dort verhältnismäßig wenig Angst haben – sonst würden sie sich dort gar nicht hineinwagen.

Angst kann also auch positiv sein?
Natürlich. Angst leitet einen elegant durchs Leben. Ohne Angst könnten wir gar nicht überleben. Häufig ist es auch so, dass Menschen, die Angst haben, besonders phantasiebegabt sind. Angst stachelt zu Höchstleistungen an. Auf der anderen Seite leiden ängstliche Menschen aber auch sehr unter ihrer Angst.

Wie äußert sich eine solche Angststörung?
Diese Menschen haben plötzliche Panikattacken. In eigentlich alltäglichen Situationen haben sie Angst, sterben zu müssen. Dem liegen dann zum Beispiel soziale Ängste zugrunde – wie eine stark ausgeprägte Schüchternheit. Oder aber sie haben eine ständig begleitende Angst, einen Unfall haben zu können. Angststörungen haben übrigens nichts zu tun mit den Ängsten, die jetzt aufgrund der aktuellen politischen Situation durch die Medien geistern – Angst vor Terroranschlägen zum Beispiel. Diese befallen alle Leute, die davon hören – aber eben nur recht kurzzeitig. Das fällt für mich eher unter „Sorgen machen“, ist aber nicht krankhaft.

Haben religiöse Menschen weniger Angst als Nichtgläubige?
Meine Vermutung ist, dass der Glaube vor Angst schützen kann. Beim Beten oder gemeinsamen Singen in der Kirche gibt es eine Endorphin-Ausschüttung im Gehirn, und das macht glücklich. Das kann aber auch heißen: Ängstliche Menschen sind gläubig, um sich vor der Angst zu schützen. Das ist aber noch nicht erforscht und nur eine These.

Wie bewerten Sie es, wenn Menschen angesichts der Flüchtlingsströme die Angst vor Überfremdung überfällt?
Hier muss man genau unterscheiden: Es gibt eine reale Angst, wie die Sorge um den Arbeitsplatz, wenn der syrische Friseur unterhalb des Mindestlohns für seine Arbeit bezahlt wird und so in Konkurrenz zu dem einheimischen tritt. Oder auch die Sorge, dass sich unsere Kultur verändern könnte. Und dann gibt es die unrealistische Angst: die sogenannte Xenophobie, die übertriebene Angst vor Fremden. Das hat sich im Gehirn abgespeichert, ist in den Genen geblieben aus der Zeit, als wir noch in Stämmen organisiert waren und uns gegenseitig bekämpft haben.

• Was kann man gegen Angst tun?
Grundsätzlich sollte man sich den Herausforderungen stellen, vor denen man Angst hat. Etwa bei Flugangst in das nächste Flugzeug nach Mallorca steigen. Und bei Fremdenangst: Die Begegnung mit den Flüchtlingen suchen. Leute, die viel im Ausland unterwegs waren, haben diese Angst meist nicht. Eine richtige Angststörung lässt sich aber nur durch Verhaltenstherapie und vor allem auch medikamentös behandeln.