Es ist der Abend des 31. Dezember 1946, als der Kölner Kardinal Josef Frings in der Kirche St. Engelbert im Stadtteil Riehl zur Predigt ansetzt. „Wir leben in Zeiten“, sagt er, „da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder durch Bitten, nicht erlangen kann“. Was er nicht ahnen kann: In diesem Moment ist ein neues Wort geboren – „fringsen“, stehlen aus blanker Not.
Der kälteste Winter seit vielen Jahren
Der Kardinal hält seine Predigt in einer Zeit harter Entbehrung. Köln ist eine Trümmerwüste, und für jeden Einzelnen geht es um die elementaren Dinge des Lebens: etwas zum Essen, etwas zum Heizen. Seit ungezählten Jahren hat es keinen so kalten Winter mehr gegeben. Von Dezember 1946 bis März 1947 liegen die Temperaturen an 64 Tagen morgens um acht Uhr unter dem Gefrierpunkt.
In dieser Notsituation „organisieren“ sich viele Kölner aus Güterwaggons und Lastwagen, die aus dem Ruhrgebiet kommen, Kohle zum Heizen. In der Bevölkerung hat sich das Gerücht verbreitet, dass der Großteil der in Deutschland geförderten Kohle von den Alliierten ins Ausland abgezweigt wird – eine falsche Behauptung, die aber gern geglaubt wird. Unter diesen Umständen fällt die Selbstbedienung leicht. „Was wir geklaut haben“, wird sich der Schriftsteller Heinrich Böll (1917-1985) später erinnern: „Fenster, Türen, Ziegelsteine, Brennholz, Bücher.“
Dann kommt die Silvesterpredigt. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht in der Stadt, dass der Kohlenklau von höchster geistlicher Stelle erlaubt worden sei. Der rheinische Volksmund prägt für diese besondere Form von Stibitzen ein eigenes Wort: fringsen. Nicht weitergetragen wurde, was der Kardinal gleich im nächsten Satz gesagt hatte: „Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: Unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“
Für Frings hatte der Ausspruch unterschiedliche Folgen. Einerseits wurde er damit populär: „Spätestens mit diesem Silvesterabend hatte der Kardinal sich die Herzen der Kölner und der Rheinländer erobert“, schreibt sein Biograph Norbert Trippen. Andererseits gab es Ärger mit der britischen Besatzungsbehörde. Zivilgouverneur William Asbury ließ aus Düsseldorf wissen, die Predigt könne von der Bevölkerung als Aufforderung verstanden werden, „das Recht in die eigenen Hände zu nehmen“. Deshalb verlangte er eine öffentliche Klarstellung.
Frings war jedoch nicht der Mann für Rückzieher. „Ich habe nicht gedacht, dass dieser eine Satz so die bürgerliche Welt aufregen würde“, entgegnete er, um dann lakonisch hinzuzufügen: „Was ich sagte, ist die Lehre der katholischen Moraltheologie. Ich selbst würde mir von den Waggons die Briketts holen, wenn ich kein Heizmaterial hätte.“
Diese Reaktion betrachtete Asbury als sehr unbefriedigend. Man vereinbarte einen Termin zur Aussprache. Als Frings dort pünktlich ankam, war Asbury noch nicht da, ein Oberst richtete jedoch aus, dass er jeden Moment eintreffen müsse. Nach einer knappen Viertelstunde des Wartens erhob sich der Kardinal und empfahl sich mit besten Grüßen an den Herrn Gouverneur. Seinen Chauffeur wies er an: „Jetzt schleunigst weg, es konnte gar nicht besser gehen!“ Zu einem weiteren Treffen wurde er nicht einbestellt.
Frings hatte die Not der Menschen im Blick
Frings starb 1978 im Alter von 91 Jahren – an die Entbehrung der unmittelbaren Nachkriegszeit erinnerte da nichts mehr. Seine Botschaft von vor 70 Jahren sei aber gleichwohl noch relevant, sagte der heutige Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki: „Den Kardinal hat die Not des Menschen umgetrieben. Und der Mensch steht immer im Mittelpunkt“, so Woelki.
„Man kann 1946 natürlich nicht mit 2016 vergleichen“, schränkt der Kardinal ein. „Wir haben andere Sozialsysteme, wir haben Möglichkeiten mit Sozialhilfe, wir haben Unterkünfte für Menschen, die auf der Straße leben müssen.“ Aber, ergänzt Woelki: „Ich würde immer sagen: Im Extremfall, wenn all das nicht tragen sollte, würde ich auch heute noch zu dem stehen, was Kardinal Frings damals 1946 als Ultima Ratio gesagt hat. Um des Menschen willen.“