In der ambulanten Pflege stößt Lina Gürtler oft an Grenzen. Einem Patienten sei sein Medikament ausgegangen, nennt die Berlinerin als Beispiel. „Das Medikament hatte er in seinem Bedarfsplan stehen“, sagt sie. Es wäre also kein Problem gewesen, es zu geben. Aber weil es verschreibungspflichtig war, musste erst ein Arzt kommen und ein Rezept ausstellen.
In der Debatte über die Ursachen des Pflegefachkräfte-Mangels geht es häufig um geringe Bezahlung oder hohe Arbeitsdichte. Das seien auch Gründe, betont Gürtler, aber die Ursachen lägen oft anderswo. „Man geht mit Optimismus und Motivation in den Beruf“, sagt sie, „und hat viel gelernt über Pflegepraxis und Methoden, und dann kann man das in der Praxis gar nicht anwenden.“ Ein Ohnmachtsgefühl stelle sich dann ein und treibe viele ihrer Kolleginnen und Kollegen aus dem Beruf.
Frank Weidner, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Köln, bestätigt das. „Die Ursachen für den Fachkräftemangel sind teilweise hausgemacht“, analysiert er. „Die Politik macht immer wieder dieselben Fehler in Unkenntnis der Zusammenhänge.“ Fehler Nummer eins ist ihm zufolge, den Pflegenden keine Verantwortung zuzutrauen. Medikamente verordnen, Rezepte ausstellen, Entscheidungen treffen – all das gesteht man ihnen in Deutschland maximal in einigen Modellversuchen zu.
Die Folge: Pflegekräfte sind frustriert in ihrem Beruf, in dem sie das, was sie theoretisch könnten, nicht machen dürfen, sie verlassen ihn oder reduzieren ihre Wochenstunden. Die Ausbildungsstandards abzusenken, um mehr Personal zu finden, habe diesen Fehler noch verschlimmert, sagt Weidner.
Fehler Nummer zwei: den Pflegekräften mehr Geld zu zahlen und ansonsten alles unverändert zu lassen. Mehr Geld sei prinzipiell in Ordnung, sagt Weidner, aber wenn die Pflegekräfte ihren Beruf immer noch ätzend fänden, würden sie lieber ihre Stellenumfänge reduzieren, um mit dem gleichen Geld mehr Lebensqualität zu haben. Mittlerweile arbeite nicht einmal die Hälfte der Pflegekräfte in Deutschland in Vollzeit.
Andere hätten zwar auch Probleme damit, Pflegefachkräfte zu finden, erklärt Weidner. Aber das Problem sei anderswo lange nicht so gravierend wie in Deutschland. Denn diese Länder, etwa Spanien und die Niederlande, hätten das Qualifikationsniveau ihrer Pflegekräfte konsequent ausgebaut. Ergebnis: eine geringere Teilzeitquote und mehr Erfolg beim Anwerben ausländischer Fachkräfte. „Hätten wir die Quote von 70 Prozent Vollzeitstellen in der Pflege, wie etwa Schweden sie hat, hätten wir kein Problem“, sagt der Pflegewissenschaftler.
Weidner sieht das eigentliche Problem unter der Oberfläche. Dass man Pflegekräften keine Kompetenzen zutraue, liege an einem „überkommenen Bild von Pflege in der Gesellschaft“. Ein Bild, bei dem es mehr auf barmherziges, mütterliches Verhalten ankomme als auf Fachkompetenz. „Dieses Bild zeigt sich immer wieder in Studien“, sagt der Experte.
Die Herausforderung, das System zu reformieren, liege auch darin, dass man es gegen die Ärzteschaft tun müsste, die gut organisiert ihren Status verteidige, betont Weidner. „Es gibt eine überbordende Arztzentrierung des Systems in Deutschland“, stellt er fest. „Wer da ran will, der muss die Power haben, es mit dem Imperium aufzunehmen.“
Die Bundesärztekammer erklärt, es gebe „teilweise sehr unterschiedliche Erwartungshorizonte zu den qualifikatorischen Anforderungen in Bezug auf die Übernahme ärztlicher Tätigkeiten durch andere Gesundheitsfachberufe“. Sie sehe aber ebenfalls die Notwendigkeit, die Aufgabenteilung und die Zusammenarbeit der Berufe im Gesundheitswesen zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu justieren. Oberste Priorität müsse dabei die Patientensicherheit haben.
Pflegeforscher Weidner sagt, er halte es daher für die beste Idee, eine Expertenkommission einzusetzen, die das ganze System von Grund auf reformiert und nicht nur einzelne Segmente. Eine teilweise Akademisierung des Pflegeberufs halte er für den richtigen Weg. Und Pflegende sollten sich endlich organisiert für ihre Belange einsetzen. Also ein Gegengewicht zur Ärzteschaft bilden.
So wie Lina Gürtler. Sie engagiert sich im Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe. Und bei einem Aufenthalt im US-amerikanischen Boston habe sie gesehen, welch enorme Verbesserungen eine akademisierte Pflege bringe. Dort habe es etwa ethische Fallbesprechungen gegeben, von Pflegepersonal geleitet. „Das ist so gut angenommen worden und hat einen so guten Effekt gehabt, dass da auch Ärzte hinzukamen“, berichtet Gürtler.