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Pöppel: Schlechte Lesefähigkeit führt zu Abhängigkeit

Millionen Menschen in Deutschland können nur eingeschränkt lesen und schreiben. Welche Folgen das für Alltag, Beruf und Teilhabe hat, erklärt Expertin Nicole Pöppel.

Millionen Erwachsene in Deutschland haben Probleme mit Lesen und Schreiben
Millionen Erwachsene in Deutschland haben Probleme mit Lesen und SchreibenImago / Joko

Lesen und Schreiben sind Grundfertigkeiten, die jeder Mensch beherrschen sollte. Aber selbst in Deutschland ist das längst keine Selbstverständlichkeit. Eine gerade veröffentlichte Analyse der Universität Hamburg geht von 10,6 Millionen Menschen aus, die nicht richtig lesen und schreiben können. Die LEO-Studie 2018 zur Lese- und Schreibkompetenz von Erwachsenen spricht von 6,2 Millionen Betroffenen. Nicole Pöppel, Geschäftsführerin des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung, spricht im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) über die Folgen.

KNA: Frau Pöppel, wer ist am meisten von fehlender Schreib- und Lesefähigkeit betroffen?
Nicole Pöppel: Nach der Leo-Studie sind etwas mehr als die Hälfte der Betroffenen Menschen mit deutscher Herkunftssprache, etwas weniger als die Hälfte sind Zweitsprachler. Außerdem betrifft es mehr Männer und mehr ältere als jüngere Personen. Die meisten haben ein gewisses Schreiblevel, können also einfache Sätze lesen oder schreiben. Das reicht aber für die gängigen Anforderungen in unserer schriftsprachlich organisierten Gesellschaft nicht aus. Außerdem sind viele Menschen mit anderer Herkunftssprache von geringer Literalität betroffen, auch wenn sie bereits gut Deutsch sprechen.

Was bedeutet das für diese Menschen im Alltag?
Sie schaffen oft keine Ausbildung und arbeiten in gering qualifizierten, schlecht bezahlten Jobs. Wenn jemand eine Arbeit hat und diese routiniert ausführt, geht das oft gut. Die Mehrheit der Menschen mit zu niedrigen Lese- und Schreibkompetenzen ist erwerbstätig. Aber sobald sich Abläufe ändern, neue Anweisungen, Geräte und neue schriftliche Anforderungen hinzukommen, stellt sie das vor große Herausforderungen.

Im Privaten und auch oft im Beruf haben sie Vertraute, die ihnen helfen und schriftsprachliche Anforderungen für sie übernehmen. Das bedeutet Abhängigkeit. Die Menschen, die nicht so gut lesen und schreiben, schränken sich oft auch im sozialen und gesellschaftlichen Leben ein, weil sie fürchten, dass sie mit Schriftsprache konfrontiert werden und dies nicht bewältigen.

Diese Menschen gelten als gering literalisiert. Was heißt das konkret?
Sie können allenfalls einfache Sätze lesen und schreiben. Texte zu lesen oder zu schreiben, gelingt ihnen nicht. Man gilt als gering literalisiert, wenn man Kenntnisse hat, die von Buchstabenkenntnis bis zu einfachen Sätzen reichen. Früher sprach man vom funktionalen Analphabetismus. Die meisten Betroffenen in Deutschland haben zwar gewisse Kenntnisse, aber zu niedrige.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Jemand kann zwar seinen Namen, seine Adresse schreiben und eine einfache Notiz mit ein, zwei Sätzen verfassen und diese auch lesen. Die Person ist aber überfordert, ein Formular oder einen Brief sinnentnehmend zu lesen und darauf eine passende Antwort zu schreiben. Oder jemand kann im Supermarkt die Namen der meisten Gemüsesorten lesen, aber kein Rezept erfassen – oder nur sehr mühevoll.

Wie lange dauert es, bis ein erwachsener Mensch gut lesen und schreiben lernt?
Es gibt leider keine pauschale Antwort, da die Startbedingungen und Kenntnisstände der Erwachsenen in Alphabetisierungs- und Grundbildungsangebote sehr unterschiedlich sind. Inzwischen sind die Lernangebote viel passender und vielfältiger als früher organisiert. Totale Analphabeten starten mit Buchstaben, andere gehen in einen Kurs, weil sie zu langsam lesen können und zu viele Fehler in gebräuchlichen Wörtern machen. Typisch ist, dass Auslaute wie d/t und ähnliche Buchstaben verwechselt werden.

Für den Lese- und Schreiblernprozess ist im Kindesalter eine kurze Zeit vorgesehen, etwa vier Jahre. Aber diesen Zeitraum sollte man auch als Orientierung bei Erwachsenen nehmen. Im mittleren Alter geht es vor allem darum, sich zu verbessern, selbstsicherer und souveräner zu werden. Es geht selten um ein von 0 auf 100.

Es geht also gar nicht darum, perfekt lesen und schreiben zu können?
Eine hohe Schreibfähigkeit zu erreichen ist meist nicht möglich, aber auch nicht das Ziel. Das Lernen im Erwachsenenalter ist stark auf konkrete Anforderungen und Lernziele der Menschen ausgerichtet.

Wer nicht lesen und schreiben kann, fühlt sich im Alltag von vielen Lebensbereichen ausgeschlossen. Was macht das mit Menschen?
Die MOVE-Studie der Stiftung Lesen hat gezeigt, dass viele Menschen mit geringen Lesefähigkeiten auch zu einem gewissen Fatalismus neigen und sich weniger zutrauen. Viele Ergebnisse dieser Studie deuten darauf hin, dass die Menschen, die schlecht lesen, sich eher in ihrem sozialen Kosmos bewegen. Sie sind dort zwar eingebunden, wagen sich aber kaum darüber hinaus. Ihnen fehlt mitunter auch das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Die Bundestags-Wochenzeitung Das Parlament erklärt in ihrer Beilage in Leichter Sprache
Die Bundestags-Wochenzeitung Das Parlament erklärt in ihrer Beilage in Leichter SpracheImago / Eckhard Stengel

Außerdem ist das gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühl bei Menschen mit formal geringer Bildung und geringer Lesekompetenz viel schwächer ausgeprägt als bei jenen ohne Schwierigkeiten beim Lesen. Nicht mal die Hälfte von ihnen – nur 40 Prozent – haben das Gefühl, dazuzugehören. 25 Prozent fühlen sich ausgeschlossen, und immerhin noch 30 Prozent sind bei der Frage unentschieden.

Sind Menschen, die sich nicht informieren können, damit auch anfälliger für Populismus?
Die LEO-Studie 2018 hat gezeigt, dass gering literalisierte Menschen an der Gesellschaft weniger teilhaben. Ihr Mediennutzungsverhalten ist anders, auch der Zugang zu Information unterscheidet sich. Menschen, die längere Texte kaum sinnentnehmend lesen oder kaum schreiben können, können schlechter Informationen selbst recherchieren oder überprüfen.

Diese Menschen lesen weniger Zeitung, nutzen dafür aber viele audiovisuelle Medien und informieren sich darüber, was an sich kein Nachteil sein muss. Social Media wird sehr viel genutzt, und natürlich verstärken die Algorithmen bestimmte Inhalte.

Fehlende Lese- und Schreibkompetenz kann also auch ein hochbrisantes politisches Thema sein…
Durchaus. Denn die LEO-Studie hat auch gezeigt, dass sich Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten weniger trauen, eine eigene Meinung zu vertreten und stattdessen eher auf andere vertrauen. Wenn das politisch ausgenutzt wird, ist das ein Risiko für die demokratische Teilhabe.

Seit 2016 gibt es die sogenannte AlphaDekade, die das Thema vorantreiben wollte. Sie endet kommendes Jahr. Wie geht es dann nach Ihrer Einschätzung weiter?
Es gibt leider noch kein Nachfolgeprogramm. Die bundesweite Kampagne des Bildungsministeriums findet dieses Jahr schon nicht mehr statt. Zahlreiche Projekte sind ausgelaufen oder laufen aus. Das gefährdet die geschaffene Infrastruktur und den Grad an Wissen, Aufklärung und Sensibilisierung. Wir müssen das koordinierte Programm mit Bund-Ländern-Partnern fortführen. Sonst drohen die Erfolge zu versanden.

Unserem bundesweit aufsuchenden Beratungsprojekt ALFA-Mobil beispielsweise, das die Dekade flankieren sollte, droht Ende 2025 das Aus. Man muss sich permanent für die Finanzierung und Ausstattung der Alphabetisierung und Grundbildung rechtfertigen, obwohl die Defizite so viele Menschen betreffen.