Die Tage bis zur Wahl sind gezählt. Ein Schwerpunkt liegt auf der Migration. Für den Strafrechtler Helmut Frister gibt es aber gerade bei Zurückweisungen an der Grenze klare juristische Hürden.
Der Rechtswissenschaftler und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Helmut Frister, erachtet in der aktuellen Migrationsdebatte viele juristische Fragen für offen. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußert er sich skeptisch im Hinblick auf die von CDU und CSU geforderten Zurückweisungen an der Grenze und warnt vor vermeintlich einfachen Lösungen.
Frage: Was steckt hinter dem Argument des Migrations-Notstandes?
Antwort: Wer an der deutschen Grenze Asyl sucht, wird aufgenommen, außer er kommt aus einem sicheren Drittstaat. Dann wäre eine direkte Zurückweisung nach dem deutschen Asylgesetz möglich. Aber das Recht der EU überlagert das. Es schreibt vor, dass der zuständige Mitgliedstaat zunächst ermittelt werden muss.
Anders als Dänemark, das sich bei seinem Beitritt zur Europäischen Union unter anderem vorbehalten hat, sich nicht an EU-Rechtsakten im Bereich Asyl und Einwanderung zu beteiligen, ist Deutschland hieran gebunden. Das schließt die sofortige Zurückweisung eigentlich aus. Die Union beruft sich auf eine allgemeine Notstandsklausel in den EU-Verträgen, wonach beim grundsätzlichen Vorrang des EU-Rechts gegenüber nationalem Recht eine Ausnahme gelten könne bei Gefahren für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit.
Frage: Kann das funktionieren?
Antwort: Ich bin sehr skeptisch. Es sind zwei Begründungen die möglich sind: Das eine sind die fürchterlichen Anschläge, zuletzt der in Aschaffenburg. Diese Anschläge hatten aber sehr unterschiedliche Hintergründe. Der Attentäter von Magdeburg lebte etwa seit Jahren in Deutschland, arbeitete als Arzt. Einzelne Straftaten, so schrecklich sie seien mögen, sind kein innerer Notstand.
Die zweite Argumentation wäre, dass die Aufnahmekapazitäten erschöpft sind. Die Lage in den Kommunen ist angespannt, aber das ist kein spezifisch deutsches Phänomen. In anderen Ländern werden zum Teil sogar mehr Asylanträge gestellt. Die deutsche Belastung liegt gemessen an der Bevölkerung auf Linie der Gesamt-EU. Wenn, dann müssten also in die gesamte EU weniger Menschen einreisen. Leider erkennen CDU und CSU den Vorrang des EU-Rechts scheinbar nicht mehr an. Bei den anderen Parteien, etwa bei den Grünen mit ihrem Zehn-Punkte-Plan, ist das anders.
Frage: Wäre denn eine Grundgesetzänderung denkbar?
Antwort: Mit einer Zweidrittelmehrheit wäre das möglich. Theoretisch könnte man damit auch das Asylrecht abschaffen. Aber die EU-Gesetzgebung wäre davon nicht betroffen.
Frage: CDU und CSU verweist oft auf andere Länder, die bereits schärfere Asylregeln anwenden.
Antwort: Rechtlich ist das kein Argument. Es gibt keine Regel des EU-Rechts, dass wenn andere sich nicht an das Recht halten, man sich auch nicht daran halten muss. Das wäre schwierig. Wir haben in der EU aber das sogenannte Dublin-Verfahren. Damit ist an sich der Mitgliedstaat für den Asylantrag zuständig, in dem der Asylsuchende erstmals die EU betreten hat. Folglich sind die Staaten mit Außengrenzen übermäßig belastet. Italien etwa hält sich schon länger nicht mehr an diese Zuständigkeit und nimmt Menschen, die nach Deutschland weiterreisen, nicht zurück. Das ist auch ein Verstoß gegen EU-Recht. Aber das legimitiert nicht, dass Deutschland auch gegen EU-Recht verstößt.
Frage: Wäre nicht das Zurückweisen an der EU-Außengrenzen zielführender?
Antwort: Das ist wohl auch das, was hinter dem Vorschlag steckt. Wenn wir Asylsuchende etwa an der Grenze zu Österreich zurückweisen, dann würden die Österreicher das Gleiche machen und irgendwann lassen die Staaten mit Außengrenzen niemanden mehr hinein. Das würde im Ergebnis bedeuten, dass das Asylrecht nicht mehr gewährleistet wird.
Frage: Gibt es andere Beispiele für “Notstandsregelungen”?
Antwort: Man muss dabei zwischen dem politischen Begriff und dem rechtlichen Begriff unterscheiden. In der Corona-Pandemie zum Beispiel hatten wir ohne Zweifel eine Notlage, aber die aufgrund dieser Notlage verhängten Einschränkungen von Grundrechten erfolgten nicht unter Berufung auf eine rechtliche Notstandsregelung, sondern beruhten auf Regelungen im Infektionsschutzgesetz, in denen die Einschränkungen entweder selbst geregelt oder die Exekutive zumindest dazu ermächtigt wurde, sie im Verordnungswege zu regeln.
Frage: Und was sind rechtliche Notstände?
Antwort: Rechtliche Notstandsregelungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie allgemein eine Verletzung rechtlicher Regelungen erlauben. Ein Beispiel dafür ist der rechtfertigende Notstand im Strafgesetzbuch, der zur Abwehr einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr die Begehung von Straftaten erlaubt, wenn die geschützten Interessen die beeinträchtigten wesentlich überwiegen.
Frage: Wenn tatsächlich der Notstand ausgerufen würde, wann wäre er wieder vorbei?
Antwort: Für die EU entscheidet hier der Europäische Gerichtshof (EuGH). Der entscheidet, ob eine Ausnahme vom Vorrang des EU-Rechts berechtigt ist. Wenn Deutschland sich bei der Grenzzurückweisung auf die Notstandsklausel berufen würde, könnte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dann würde der EuGH entscheiden. Aber es ist gar nicht sicher, ob die Kommission das überhaupt machen würde.
Frage: Gibt es gegen Italien eine solches Vertragsverletzungsverfahren wegen der Dublin-Flüchtlinge, die nicht wieder zurückgenommen werden?
Antwort: Nein, weder Deutschland noch die Kommission haben ein solches Verfahren bislang eingeleitet. Vermutlich um das Aufnahme- und Verteilungssystem in der EU nicht zu gefährden.
Frage: Also setzt die Union auf das Argument: “Wo kein Kläger, da kein Richter”?
Antwort: Ja. Es geht darum, Fakten zu schaffen.
Frage: US-Präsident Donald Trump hat seine Amtszeit mit Dekreten und Ad-hoc-Entscheidungen begonnen. Beeinflusst das die deutsche Argumentation?
Antwort: Es entsteht schon etwas der Eindruck, dass dieser Stil “Am ersten Tag meiner Amtszeit werde ich das ändern” von Trump beeinflusst wird. Trumps Wahlkampf war sehr erfolgreich, und vermutlich haben die hiesigen Politiker den Eindruck, dass dieser Stil gut ankommt. Die Realität samt ihren rechtlichen Regelungen ist etwas komplexer. Bei Trump hat man den Eindruck, dass ihm viele rechtliche Regelungen egal sind.
Frage: CDU und CSU fordern in ihren Vorschlägen neben den Grenzzurückweisung auch das Ende des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigte. Wäre das möglich?