Die Dämonen der Vergangenheit drohen auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen wieder aufzuerstehen, meint Meron Mendel. Wie Antisemitismus funktioniert und warum der Israel-Palästina-Konflikt nicht in Karlsruhe gelöst wird
Von Meron Mendel
Der Streit um das „Judensau“-Relief an der Stadtkirche Wittenberg erinnert uns daran, dass das jahrtau-sendealte Erbe des christlichen Antijudaismus immer noch öffentlich zu sehen ist. Diese Tradition ist aber nicht nur in historischen Bauwerken zu erkennen, sie lebt auch in Diskursen fort. Auch in der Art und Weise, wie in der christlichen Welt über den Israel-Palästina-Konflikt diskutiert wird. Zwar ist nach 1945 eine offen antijüdische christliche Theologie fast ausnahmslos verpönt. Doch nutzen viele die Ausweichmöglichkeit, den Staat der Juden als Inkarnation des Bösen schlechthin zu zeichnen, als kolonialen Fremdkörper im arabischen Raum.
Dass Antisemitismus auch so funktioniert, hat der Historiker Werner Bergmann mit dem Begriff der Umwegkommunikation herausgearbeitet. Damit ist nicht die Kritik an israelischem Regierungshandeln gemeint, etwa in den besetzten Gebieten, sondern eine andere Art Kritik, wie ich sie etwa bei einer Tagung der Evangelischen Akademie erleben durfte. Sagte da doch mein Sitznachbar tatsächlich: „Alles, was die Israelis in Palästina machen, haben sie von der SS gelernt.“
Diesem Erbe tritt der christlich-jüdische Dialog entgegen. Eine Vertrauensbasis zwischen den beiden Religionen schuf eine Theologie, die Auschwitz Rechnung getragen hat. Sie interpretierte die Errichtung des Staates Israel als Ausdruck des Überlebens des jüdischen Volkes und als „Zeichen der Treue Gottes“.
Nun stehen die Errungenschaften des christlich-jüdischen Dialogs in Gefahr. Die Dämonen der Vergangenheit drohen nun in der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die vom 31. August bis 8. September in Karlsruhe tagt, wieder aufzuerstehen, indem man dort den Staat Israel als alleinigen Täter im Nahostkonflikt verurteilen will. In vielen Kirchen der Welt ersetzen inzwischen Begriffe wie „Apartheid“, „Kolonialismus“ oder „ethnische Säuberung“ jeden Versuch, den Konflikt in seiner Komplexität zu verstehen.
Die Beauftragten für das christliche-jüdisch Gespräch der fünf Kirchen an Rhein und Ruhr und deren jeweilige Leitung haben gut daran getan, 2021 „Leitgedanken und erläuternde Thesen“ zum Konflikt zu erarbeiten, die eine deutliche Kritik an der Politik Israels mit einer klaren Abgrenzung von offenem und verstecktem Antisemitismus verbinden.
Weniger erfreulich war die Reaktion des Kairos-Palästina-Solidaritätsnetzes: Wie beim Fußball sprangen sie an die Seite ihrer Mannschaft, ohne zu merken, wie stark dabei eine antijüdische Theologie fortwirkt. Ihnen missfällt, dass das Papier der Kirchen „die untrennbare Beziehung des jüdischen Volkes zum Land der Verheißung mit Jerusalem in der Mitte“ bestätige: Das sei ein Kernelement des (bösen) Zionismus. Dass ausgerechnet Theologen die Verbindung der Juden mit Israel leugnen und sie als zionistische Erfindung darstellen, ist bitter. Mir ist noch kein Jude begegnet, der am Pessach-Abend den Satz „nächstes Jahr in Jerusalem“ auslässt. Noch perfider ist der Versuch, jüdische Kronzeugen zu finden, die ebenfalls den Staat Israel als das Böse sehen.
Der Israel-Palästina-Konflikt wird nicht in Karlsruhe gelöst. Aus jüdischer Sicht erhoffe ich mir, dass der ÖRK eine Botschaft des Friedens an beide Konfliktparteien sendet, geboren aus der Reflexion über die eigenen Verstrickungen. „Gott hat uns als zwei Völker hierher gestellt, und gibt uns, wenn wir es nur aufrichtig wollen, auch die Kraft, zusammenzuleben und Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen, das Land wahrhaft in Gottes Land zu verwandeln. Dieser Satz der palästinensischen Christen aus dem umstrittenen Kairos-Palästina-Dokument könnte dafür Ausgangspunkt sein.
„Leitgedanken und erläuternde Thesen“ (2021) unter
www.jerusalemsverein.de/wp-content/uploads/Israel-Palaestina-Thesen-5-evangelische-Landeskirchen-2021.pdf
Kairos-Palästina-Dokument von 2009:
www.oikoumene.org/de/resources/documents/kairos-palestine-document
Meron Mendel ist Professor für transnationale Soziale Arbeit und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Mit seiner Frau Saba Nur Cheema schreibt er die Kolumne „muslimisch-jüdisches Abendbrot“ in der FAZ.