Stephan Lamby wollte eigentlich nur seine filmische Beobachtung der Ampel-Koalition nach deren Wahlsieg fortsetzen. Doch durch den Krieg in der Ukraine kam alles ganz anders. Spannende Einblicke hinter die Kulissen.
In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:
Fernsehdokumentarist Stephan Lamby hat die politisch wichtigsten Akteure der Bundesregierung seit der Bundestagswahl 2021 mit seinem Kamerateam begleitet. Seine Langzeitbeobachtung über knapp zwei Jahre hinweg dokumentiert eine Regierung am Limit – in Zeiten des Kriegs in Europa.
Denn kaum hatte sich das Land halbwegs von der Pandemie erholt, wurde die Koalition mit dem Angriff Russlands gegen die Ukraine konfrontiert. Es sind Entscheidungen von enormer Tragweite, die die Regierung um Olaf Scholz, Robert Habeck, Annalena Baerbock und Christian Lindner seither zu treffen hat.
Mit der dokumentarischen Reportage “Ernstfall – Regieren am Limit” blickt Lamby hinter die Kulissen der Regierung, auch in dramatischen Situationen. Die Kamera konnte Scholz, Baerbock, Habeck, Lindner, Wolfgang Schmidt und Boris Pistorius auch in Momenten großer Anspannung aus der Nähe beobachten, bei Staatsbesuchen wie bei internen Besprechungen.
Der Film vermittelt einen manchmal beklemmenden, manchmal aber auch tröstenden Einblick ins Getriebe der Politik, die mit dem Krieg und der Klimakrise mit enormen Herausforderungen umgehen muss. Trotz einer sichtlichen Nähe zu den Spitzenpolitikern wahrt die dokumentarische Reportage doch eine kritische Distanz.
Stephan Lamby ist ein Mensch der eher leisen Töne. Er lässt sein Gegenüber ausreden, auch mal länger nachdenken, ohne gleich unwirsch nachzuhaken. Krass-konfrontativ ist so ziemlich das Gegenteil von seinem Interview-Stil. Das war schon immer so. 1998 entlockte er damit Hannelore Kohl in “Leben im Kanzlerbungalow” plötzlich echte Emotionen unter der Betonfrisur.
Exakt 25 Jahre später sieht Lambys Hauptprotagonist deutlich kurzgeschorener aus. Olaf Scholz ist Kanzler einer Ampelkoalition, die zumindest laut der veröffentlichten Wahrnehmung oft ausfällt und dann nur noch gelb blinkt. “Ernstfall – Regieren am Limit” bietet einen manchmal beklemmenden, manchmal tröstlichen Einblick in die Macht, aber vor allem auch die Ohnmacht der vermeintlich so Mächtigen.
Denn die eigenwilligen Manöver der FDP sind nichts gegen das, was noch ganz anders gekommen ist, seit Lamby 2022 eigentlich nur eine Fortsetzung seines Films “Wege zur Macht” drehen wollte. 2020 hatte er die damaligen Kandidaten Armin Laschet (CDU), Annalena Baerbock (Grüne) und Olaf Scholz (SPD) durchs Land begleitet. Als Scholz Kanzler der ersten Dreierkoalition in der jüngeren Geschichte Deutschlands wurde, entstand die Idee weiterzumachen.
Klima als die große Herausforderung sollte im Zentrum des neuen Films stehen, so hat es Lamby bei der Premiere erzählt. Doch am 27. Februar 2022 kam die Zeitenwende. Lamby ist im Bundestag dabei, als über etwas ganz anderes debattiert wird, nachdem Putins Armee wenige Tage zuvor in die Ukraine einmarschiert war.
Lamby erzählt auch von den Wochen zuvor, der zermürbenden Diplomatie, die das Unvorstellbare zu verhindern sucht. Wir sehen Scholz und Putin am absurd langen Kreml-Tisch, einen sichtlich frustrierten, aber auch beklommenen Kanzler. Das geht unter die Haut, gerade weil es echt ist. So echt, wie es bei durch jahrelangen Polit-Einsatz gestählten Protagonisten sein kann.
Annalena Baerbock merkt man an, dass sie noch nicht so lange dabei ist. Christian Lindner (FDP), dass er mehrere Rollen spielt und gleichzeitig für und gegen die Ampel agiert, um das Profil seiner Partei zu schärfen, die gerade wieder in mehreren Landtagswahlen abgeschmiert ist. Robert Habeck (Grüne) reflektiert offen und ist dann wieder verschlossen. Müde und abgekämpft sind sie zwischendurch alle. Selten war das Spitzenpersonal der Bundesrepublik so zerzaust-ehrlich zu sehen. Auch wenn der Titel etwas reißerisch wirkt – in solchen Momenten wird sein Versprechen vollumfänglich eingelöst.
Doch Lambys Film ist dabei nie voyeuristisch oder ergeht sich in wohligem Weltuntergangsgrusel. Dazu ist die Lage zu ernst, und wir sind mittendrin. Nicht nur wegen des Ukraine-Kriegs, wie die dann doch immer wieder dazwischen geschnittenen Aufnahmen von Klimaprotesten der “Letzten Generation” klarmachen. So nah dran war Fernsehen selten.
Der Film schlägt den Bogen von Scholz großer Rede zur Zeitenwende bis zum Heizungsgesetz in diesem Jahr, das gezielt durchgestochen und damit vorerst zum Entgleisen gebracht wird. Wenn Christian Lindner dann treu in die Kamera sagt, er könne ausschließen, dass das mit seiner Partei zu tun habe, wird der Film sogar ausgesprochen heiter. Dennoch hätte der Film ein ziemlich depressives Unterfangen werden können – oder vielleicht angesichts der Weltlage sogar werden müssen.
Doch die Nähe, die Lamby herstellt – oder zumindest suggeriert, macht ihn davor gefeit. Selbst Olaf Scholz menschelt zuweilen. Und wenn er und Lamby im Regierungsflieger auf einer Bank längs der Bordwand sitzen, sieht man: Da sitzen zwei, die gerade auch nicht weiterwissen. Der eine muss aber, weil er Kanzler ist. Und der andere, weil Journalist, darf auch noch harte Fragen stellen. Dass macht Lamby wiederum so behutsam, dass die Nähe nicht verloren – aber auch nie zu weit geht.
“Ich war nicht embedded, es gab keine Bedingungen”, sagte Lamby bei der Premiere zur Frage nach der Eingemeindung durch Nähe: “Bei Entscheidungen war ich nicht dabei, das sollen die selber machen.” Doch unmittelbar davor und danach sind sie wieder da – die Kamera, und die leisen, klugen Fragen von Lamby.