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Engel mit Geheimtafeln und Taufe für die Toten

Die Heiligen der Letzten Tage – wer sie sind und was sie glauben

Die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ (HLT), umgangssprachlich „Mormonen“, ist mit nach eigenen Angaben 15 Millionen Mitgliedern eine der erfolgreichsten Neureligionen. Weil sie in ihrer Heilslehre, ihrer Geschichtsdeutung und ihrem gesamten Leitungspersonal durch und durch amerikanisch geprägt und aufgrund ihrer Struktur und Theologie für interkulturelle Einflüsse weitgehend verschlossen ist, gilt sie als die amerikanische Religion schlechthin.
Die Geschichte der Mormonen ist ein Abenteuer. Sie beginnt mit dem Bauernsohn Joseph Smith (1805-1844), der 1820 von seiner ersten Gotteserscheinung in den Wäldern hinter dem elterlichen Hof berichtet. Ein paar Jahre darauf zeigt ein Engel dem jungen Joseph jahrhundertealte goldene Platten. Da er kaum lesen und schreiben kann, geschweige denn Fremdsprachen beherrscht, erhält er zusätzlich magische Kristalle als „Prophetenbrille“, die er sich vor Augen hält und so die Platten übersetzen kann, indem er sie, hinter einem Vorhang verborgen, einem Freund diktiert. So entsteht die Offenbarungsschrift „Das Buch Mormon“, von dem die Mormonen ihren Namen haben.
Auf dieser Grundlage gründete sich 1830 die neue Gemeinde. Mormonen sehen darin die „Wiederherstellung“ der untergegangenen Urkirche in den „letzten Tagen“ vor der Wiederkunft Christi. Das Elitebewusstsein des neuen Glaubens, in den alttestamentliche, sozialutopische und freimaurerische Elemente einflossen, war vielen Zeitgenossen anstößig. Mehrfach wurden die HLT vertrieben.
Trotzdem wuchs die Gemeinde. Die Botschaft traf einen Nerv und passte perfekt in das junge Amerika: Laut dem Buch Mormon hatten sich einige Israeliten im 6. Jahrhundert vor Christus in Amerika niedergelassen. Später erschien ihnen Jesus Christus nach seiner Jerusalemer Himmelfahrt, predigte das Evangelium und fuhr ein zweites Mal gen Himmel. In Amerika hatte der Garten Eden gelegen, und hier sollte die Wiederkunft Christi stattfinden. Zusammen mit einem ausgeprägten religiösen Fortschrittsoptimismus war dies eine perfekte Selbstbewusstseinsreligion für den jungen Staat.
Zentral ist das Wesen der HLT als Tempelreligion. Neben den wöchentlichen Gottesdiensten in den Gemeindehäusern finden bestimmte Rituale in einem der weltweit mehr als 150 öffentlich nicht zugänglichen Tempel statt (in Deutschland: Freiberg/Sachsen und Friedrichsdorf/Hessen). Bei den auf das Jenseits bezogenen Ritualen geht es unter anderem um sogenannte Siegelungen, mit denen Eltern und Kinder sowie Eheleute für immer miteinander verbunden werden können.
Damit hängt ein weiteres Tempelritual zusammen: die stellvertretende Taufe für die Toten. Zwischen der Urkirche und der Wiederherstellung 1830 gab es keine heilsvermittelnde Kirche. Daher bieten Mormonen den Verstorbenen die Aufnahme mittels Taufen, die an einem mormonischen Nachfahren der Toten vollzogen werden, nachträglich an.
Obwohl Mormonen trinitarische Formeln verwenden, unterscheidet sich ihre Gotteslehre von der christlichen. In mormonischer Diktion ist Gott ein leibliches Wesen von menschlicher Gestalt, das zusammen mit seinem Sohn Jesus Christus an einem konkreten Ort lebt  und in gemeinsamer Willenseinheit mit dem Heiligen Geist seine Schöpfung regiert. Auch die Vorstellung einer Himmlischen Mutter ist teilweise verbreitet.
Die Anthropologie trägt eine gnostische Prägung. Menschen sind vor ihrer Geburt als Geistwesen bei Gott. Die vorübergehende Existenzform auf Erden dient der Bewährung unter den Bedingungen von Leiblichkeit und Willensfreiheit, bei der man durch Gesetzesgehorsam Fortschritte machen kann. Diese Entwicklung des Einzelnen ist Teil des Gesetzes des ewigen Fortschritts, den die ganze Schöpfung und auch Gott selbst durchlaufen. Im Endgericht entscheidet der Entwicklungsstand darüber, in welche von drei Stufen der Herrlichkeit man eingehen wird. Theoretisch kann der Mensch diese Fortschrittsentwicklung sogar fortsetzen, bis er selbst zum Gott wird – so wie sich auch der Gott der Bibel auf diese Weise einst aus einem Menschen entwickelte.
Die HLT kennen neben der Bibel drei weitere Offenbarungsschriften: „Das Buch Mormon“, „Lehre und Bündnisse“ und „Die Köstliche Perle“. Die Möglichkeit solcher Schriften ergibt sich aus der Tatsache, dass nicht nur Joseph Smith ein Prophet war, sondern jeder seiner Nachfolger, heute „Präsident“ genannt, als lebender Prophet gilt, der von Gott neue Offenbarungen erhalten kann.
Auffällig ist die Enthaltsamkeit (kein Kaffee, Tee, Alkohol, Tabak, kein Sex vor der Ehe), die man als weltliche Seite der kultischen Reinheitsvorstellungen der Tempeltheologie sehen kann. Zentral ist auch die Betonung der Familie: Für Männer ist Familiengründung eine religiöse Pflicht. Mormonen sind überdurchschnittlich gebildet und werden unterdurchschnittlich oft kriminell. Sie leben in einer Atmosphäre des Wertkonservatismus und Fortschrittsoptimismus. Dazu passend lehnen sie übrigens das Kreuz als christliches Symbol ab.

Gekürzte Version des Lexikon-Artikels „Mormonen“, den die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen im Internet bereitstellt: www.ezw-berlin.de.