Es dauert ein paar Minuten, bis Martin Weskott in der mit Büchern überfüllten Steinscheune auf dem Katlenburger Burgberg Platz für zwei Stühle freigeräumt hat. Meterhoch, teils bis zur Decke, stapelt sich die Literatur: Sachbücher und Romane, Kinderbücher und Comics, Bildbände und Kalender, Landkarten und Atlanten. Auch Spiele und Schallplatten bewahrt Ruhestandpastor Weskott in dem Büchermagazin auf, das gleich neben der Kirche im südniedersächsischen Katlenburg steht.
Wie viele Werke sich allein in diesem Raum auf- und nebeneinander türmen, kann der 71-Jährige nur grob schätzen. „Vielleicht 80.000, vielleicht mehr“, sagt er: „Und es kommt immer noch Nachschub.“ Weskott und Mitstreiter aus der Kirchengemeinde haben in den Jahren seit 1991 zunächst auf Müllhalden und in aufgegebenen Bibliotheken in Ostdeutschland Hunderttausende Bücher aus DDR-Zeiten eingesammelt, die als nicht mehr verkäuflich galten und eingestampft werden sollten.
Später belieferten auch Verlage und Büchereien aus dem Westen den umtriebigen Pfarrer mit Literatur – weit über eine Million Bücher hat Weskott so insgesamt vor dem Schredder bewahrt. Viele Bände finden neue Besitzer, werden sonntags nach dem Gottesdienst gegen eine Spende für „Brot für die Welt“ an Lesefans weitergegeben. Der weitläufige Kirchhof ist dann oft mit Autos aus nah und fern zugeparkt. Mehr als 100.000 Euro für das evangelische Hilfswerk sind bislang zusammengekommen.
Weskott erhielt das Bundesverdienstkreuz
Der Pfarrer und die von ihm gegründete „Gesellschaft zur Förderung von Kultur und Literatur“ haben zwischen 2001 und 2017 viele Autorinnen und Autoren der weggeworfenen und teils verloren geglaubten Bücher nach Katlenburg zu Lesungen eingeladen. „Müll-Literaten lesen“ und „Menschen und Bücher vorgestellt und diskutiert“, waren die Lesereihen betitelt. Rund 300 Veranstaltungen gab es. 1993 bekam der Bücherpastor, wie Weskott oft genannt wird, das Bundesverdienstkreuz.
Die „Müll-Literaten“, ihre Werke und die Katlenburger Lesungen stehen auch im Mittelpunkt von Weskotts eigenem Buchprojekt: Er schreibt an einer alternativen Literaturgeschichte der DDR, wie er sagt, „Entdeckungen und Ergänzungen“ lautet der Arbeitstitel. In etwa sechs Monaten will Weskott mit dem Manuskript fertig sein, Verhandlungen mit Verlagen laufen. „In dem Band stelle ich Werke und ihre Verfasser vor, die sonst nicht oder kaum erwähnt wurden“, sagt er. Viele Bücher seien in der DDR gedruckt worden und – vor allem außerhalb des Landes – doch weitgehend unbekannt geblieben.
„Darunter sind Romane über die Geschichte Dresdens, über die 1920er Jahre, über die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg“, zählt Weskott auf. Auch der Roman „Ein vergessenes Leben“ des Schriftstellers und Chemiehistorikers Wilhelm Strube, der die Partisanenbekämpfung durch die Wehrmacht behandelt: „Das sind Bücher, die können Sie nur entdecken, wenn sie damit so umgehen, wie wir das tun.“ Strube habe 1990 zu den Gründern des Förderkreises Freie Literaturgesellschaft in Leipzig gehört.
Auflage nach der Wiedervereinigung zerstört
Insgesamt 30 Autorinnen und Autoren und ihr Schaffen will Weskott in seinem Buch porträtieren. Hildegard Maria Rauchfuß zählt dazu, sie war unter dem Decknamen „Bettina“ inoffizielle Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit. Ebenso der Künstler und Schriftsteller Winfried Völlger, der in seinen Bildern die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im Jahr 1968 visualisierte.
Als weiteres kritisches Werk über 1968 und den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei nennt Weskott „Keine Zeit für Beifall“ der Dramaturgin und Drehbuchautorin Gabriele Herzog. Das Werk spielt an der Universität Leipzig und beschreibt auch den Widerstand gegen die Sprengung der Leipziger Paulinerkirche 1968. Die Veröffentlichung des Buches sei seit der Fertigstellung 1984 immer wieder herausgezögert worden, erzählt Weskott, bis es 1990 schließlich erschienen und in Zeiten der Wiedervereinigung doch keine Beachtung gefunden habe. Abgesehen von den Exemplaren, die Weskott gerettet habe, sei der größte Teil der Auflage wohl vernichtet worden.
Dissidentische Texte in wackligen Stapeln
Auch Konflikte in der Landwirtschaft, der Aufstand vom 17. Juni 1953, der Mauerbau sowie ökologische und alltägliche Fragen wurden in der DDR-Literatur thematisiert, weiß Weskott. Ein Beispiel sei der 1987 im Ostberliner Aufbau Verlag erschienene Roman „Die Tochter“ der Autorin und Keramikerin Christiane Grosz: „Ein Buch, das schildert, wie man vor 1961 in den Westen zum Einkaufen gefahren ist und dabei die Kontrollen an der Grenze erlebt hat.“
Doch wie sieht es mit der Zensur der DDR-Behörden aus? „Die Wirkmächtigkeit des Werkes hat die Zensur überwunden“, sagt Weskott nach einigem Überlegen. „Man darf sich nicht auf ein mechanisches Bild festlegen, man muss die Texte ganz gelesen haben. Wer etwas von der DDR-Gesellschaft erfassen will, sollte zu deren literarischen Werken greifen. Ein großer Teil war im Grunde dissidentisch.“