Von Christopher Beschnitt
Aristoteles hatte noch eine wunderliche Vorstellung davon, wie Vögel überwintern. Der griechische Philosoph vermutete in der Antike von Schwalben, sie verbrächten die kalte Jahreszeit schlafend im Schlamm am Grunde von Seen. Heute weiß man es besser: Sie fliegen in den Süden. So wie ungefähr die Hälfte der rund 250 Vogelarten, die in Deutschland brüten. Einige von ihnen sind derzeit unterwegs – zurück aus wärmeren Gefilden in Afrika oder dem Mittelmeerraum zu uns nach Mitteleuropa.
Zum Beispiel die Feldlerche: Sie zieht gerade aus Westeuropa her und damit etwa 2000 Kilometer weit. Das ist nichts im Vergleich zur Küstenseeschwalbe, dem Rekordhalter des Vogelzugs. Bis zu 30 000 Kilometer fliegt diese Art jedes Jahr: von der Arktis, ihrem Brutgebiet, einmal um die Erde in die Antarktis, wo sie überwintert, und zurück. Ein anderes Extrem ist der Mauersegler: Während seiner zehnmonatigen Zugzeit bleibt er ohne Pause in der Luft – er schläft sogar fliegend.
Doch woher kennen Mauersegler und Co. ihre Route? Woher wissen sie überhaupt, dass sie irgendwann irgendwohin fliegen müssen? Laut Naturschutzbund Deutschland (Nabu) ist der Auslöser dafür Nahrungsmangel: Frost, eine geschlossene Schneedecke und wenig Tageslicht erschweren die Suche nach Insekten und Samen.
Bis zu 30 000 Kilometer fliegt die Küstenseeschwalbe
„Abzugszeit, Zugrichtung und Zugentfernung sind bei den meisten Zugvogelarten genetisch vorgegeben“, ergänzt Nabu-Vogelexperte Lars Lachmann. Selbst Zugvögel in Käfigen versuchten zur Zugzeit immer wieder in eine bestimmte Richtung zu flattern. Auf ihrem Trip orientierten sich Vögel bei klarem Himmel tagsüber am Sonnenstand und nachts am Sternenhimmel. Außerdem verfügten sie über einen eingebauten Magnetkompass und folgten markanten geographischen Leitlinien wie Flüssen, Küsten und Gebirgen.
Das Zugverhalten ist für viele Menschen ein Sinnbild der Sehnsucht. Alexandra Freund, Professorin am Psychologischen Institut der Universität Zürich, erklärt: „Sehnsucht wird als das bittersüße Gefühl definiert, das daraus entsteht, dass einem etwas im Leben fehlt, das sehr wünschenswert erscheint und gleichzeitig unerreichbar ist.“ Dieses Gefühl könne durchaus beim Betrachten ziehender Vögel entstehen: „Die Tiere brechen auf, in wärmere Gefilde, in denen es in unserer Phantasie wie im Paradies zugehen mag – die aber für uns gerade nicht zugänglich sind.“
Vogelzug kommt auch schon in der Bibel vor
Apropos Paradies: Den Vogelzug würdigt schon die Bibel. „Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten; Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Frist ihrer Rückkehr ein“, heißt es bei Jeremia. Wie andere angeborene Merkmale kann sich der Zuginstinkt laut Lachmann allerdings durch Selektion der besten Strategien verändern. So wirkt sich etwa der Klimawandel aus: Weil beispielsweise Kraniche und Weißstörche in ihren Brutgebieten inzwischen auch im Winter genug Nahrung finden, bleiben einige von ihnen einfach das ganze Jahr über dort.
Durch den Reiseverzicht entgehen die Tiere manchen Gefahren: schlecht isolierten Stromleitungen und der Lebensraumzerstörung in den Winterquartieren etwa. Darüber hinaus werden Zugvögel in zahlreichen Ländern bejagt. Insbesondere am Mittelmeer gibt es zudem viel Wilderei, etwa mit Netzen und Leimruten. „Auf Zypern beispielsweise werden auf diese Weise Kleinvögel wie das Rotkehlchen gefangen und als Delikatesse verkauft“, sagt Lachmann. 2,6 Millionen Tiere kämen so jährlich allein auf dieser Insel um.
Zugvögel werden im Mittelmeerraum gejagt
Umweltschutzverbände bemühen sich mit diversen Programmen um Abhilfe dieser Risiken. Im Osten Bayerns gibt es seit 2004 eine ganz besondere Aktion zur Zugvogel-Unterstützung: In Burghausen im Landkreis Altötting wird im Rahmen eines EU-Projektes der Waldrapp wieder angesiedelt, eine Ibis-Art, die bis ins 17. Jahrhundert in Mitteleuropa heimisch war und dann durch Überjagung verschwand. Heute zählt der Waldrapp zu den am stärksten bedrohten Vogelarten weltweit. Wild kommen wohl nur noch einige Hundert Exemplare in Marokko vor.
Diese leben dort das ganze Jahr über. Ihre ausgestorbenen europäischen Verwandten hingegen haben ihre Heimat im Winter einst verlassen. Dieses Verhalten musste den neuen bayerischen Waldrappen erst mühsam beigebracht werden, denn sie sind aus Eiern geschlüpft, die aus Zoo-Populationen ohne Zugverhalten stammen. Die Rappe bekamen ein entsprechendes Training, indem Naturschützer ihnen in Leichtflugzeugen fliegend den Weg in die Toskana zeigten. Es klappte: Inzwischen segeln die ersten Vögel selbstständig hin und her und geben dieses Verhalten auch an ihre Nachkommen weiter.
Für Wintergäste ist bei uns Sommer
Doch warum bleiben die Tiere nicht für immer im Süden? „Wegen der Konkurrenz“, antwortet Lars Lachmann. „In ihrem Winterquartier müssen sich die Vögel den Lebensraum mit einheimischen Arten teilen – das ginge nicht dauerhaft.“
Das gilt auch für jene Arten, für die der Süden sich bei uns befindet, für unsere sogenannten Wintergäste. Sie kommen im Winter aus Skandinavien und Sibirien nach Mitteleuropa, es handelt sich um Arten wie den Seidenschwanz und die Bergente. Und von wegen Ente: Eine solche war also auch Aristoteles' Geschichte von den Schwalben im Seeschlamm.