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„Ein ausschlaggebendes Urteil“

Lange galt es als Charakterschwäche, wenn jemand ein Problem mit Alkohol bekam. Das änderte sich vor 50 Jahren durch ein Urteil des Bundessozialgerichts. Experten sehen allerdings weiterhin Herausforderungen

© epd-bild / Cristina Fumi

 

Über 90 Prozent der Erwachsenen in Deutschland konsumieren Alkohol, etwa acht Millionen trinken „riskant“, wie Experten sagen. Weltweit gesehen ist Alkohol die Droge, die am häufigsten zu einer behandlungsbedürftigen Abhängigkeit führt. Dass Alkoholismus heute als Krankheit betrachtet wird, ist allerdings nicht selbstverständlich. Vor 50 Jahren, durch ein Gericht des Bundessozialgerichts am 18. Juni 1968, wurde diese Krankheit in Deutschland anerkannt.
Der schwedische Arzt Magnus Huss war der erste, der den Alkoholismus – ein Begriff, den er selbst prägte – als Krankheit definierte. 1849 sprach er neben dem, was heute als Alkoholvergiftung bezeichnet wird, von der „acuten Alkoholskrankheit“.

Die WHO erkannte das Krankheitsbild spät an

Huss war ein Pionier: Über 100 Jahre sollten vergehen, bis sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dieser Betrachtungsweise anschloss.
Der Physiologe Elvin Morton Jellinek, der zeitweise für die WHO tätig war, hatte zuvor für die Anonymen Alkoholiker gearbeitet. Er wirkte entscheidend darauf hin, dass die WHO den Alkoholismus 1952 offiziell als Krankheit definierte. Demzufolge sind Alkoholkranke „exzessive Trinker, deren Abhängigkeit vom Alkohol einen solchen Grad erreicht hat, dass sie deutliche geistige Störungen oder Konflikte in ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit, ihren mitmenschlichen Beziehungen und ihren sozialen und wirtschaftlichen Funktionen aufweisen, oder sie zeigen Vorstadien einer solchen Entwicklung; daher brauchen sie Behandlung“.
Wiederum 14 Jahre später urteilte das Bundessozialgericht, dass Alkoholkranke sich in ambulante oder stationäre Behandlung begeben könnten – die Kranken- oder Rentenversicherung müsse etwa für Entziehungskuren aufkommen. Es berief sich dabei auf die Definition der WHO.
Dass die Anerkennung spät erfolgte, liegt teils wohl daran, dass Sucht­erkrankungen nicht einheitlich verlaufen. Historisch betrachtet gehörte Alkohol zudem immer zum sozialen Leben dazu, auch wenn regelrechte Gelage etwa im Mittelalter als lasterhaft galten. Um 1500 konsumierten laut Bundeszentrale für politische Bildung erwachsene Hamburger zweieinhalb Liter Bier am Tag, Bewohner süddeutscher Städte einen Liter Wein. Bis heute sorgt das Thema für Diskussionen in Wissenschaft und Gesellschaft – und beschäftigt auch Gerichte. So entschied das Bundesarbeitsgericht erst vor drei Jahren, dass ein Arbeitnehmer auch bei einem Ausfall wegen Alkoholabhängigkeit einen Anspruch auf eine Lohnfortzahlung von sechs Wochen hat.
Laut Suchtexperten wird der Alkoholismus noch immer unterschätzt. „Nach dem Krieg hat sich die deutsche Gesellschaft in den Alkohol hineingesteigert – und Deutschland ist bis heute eine Führungsnation in Europa und der Welt, was die Ver-harmlosung dieser legalen Droge betrifft“, sagt der Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), Raphael Gaßmann. Die DHS dringt unter anderem auf höhere Preise für Alkohol, eine geringere Verfügbarkeit und ein Werbeverbot.
Alkohol gehöre in allen Gesellschaftsschichten zum Lebensstil dazu, sagte kürzlich auch der Heidelberger Alkoholforscher Helmut Seitz dem „Zeit“-Magazin. Das Trinken in Gesellschaft sei für manche ein Statussymbol. Er plädiere nicht dafür, Alkohol abzuschaffen, so Seitz: „Er ist Teil unserer Kultur.“ Er rechne jedoch in den kommenden Jahren mit einem weiteren Anstieg von Leberschäden und einem steigenden Bedarf an Transplantationen: Warnungen würden allzu oft in den Wind geschlagen.

Alkohol wird noch immer oft verharmlost

Wer mit einer Abhängigkeit offen umgeht, muss unterdessen nach Worten von Gaßmann noch immer mit Ausgrenzung rechnen. Das Urteil von 1968 sei zwar ausschlaggebend für ein Umdenken gewesen: Vielen Menschen sei durchaus bewusst, dass Alkohol kein harmloses Genussmittel sei. Die Politik hinke jedoch hinterher, so der Experte. Weiterhin tabuisiert sei zudem die Erkenntnis, dass Suchtprobleme mit dem Konsum stiegen. „So kommt es, dass Massenbesäufnisse wie die inzwischen landesweiten Oktoberfeste immer noch beliebter werden.“

Alkoholabhängigkeit besteht dann, wenn mindestens drei dieser sechs Kriterien zutreffen:
– Starker Wunsch oder Zwang, Alkohol zu trinken.
–  Kontrollverlust in Bezug auf die Menge, den Beginn oder das Ende des Konsums.
–  Körperliche Entzugserscheinungen, wenn man nichts oder weniger trinkt.
–  Toleranzentwicklung – man verträgt immer mehr.
–  Vernachlässigung anderer Tätigkeiten, um stattdessen zu trinken, Alkohol zu beschaffen oder sich vom Trinken zu erholen.
–  Trotz Wissen um körperliche Spätfolgen weiterer Alkoholkonsum.            UK