Bilgenur Aras hat einen weiten Weg hinter sich. Sie war nach ihrer eigenen Beschreibung ein sehr scheues, schüchternes Kind. Heute steht sie lässig im Ring eines Kampfsportstudios in Frankfurt am Main, durchtrainiert, mit der selbstbewussten Haltung eines Menschen, der um seine Kraft und Ausstrahlung weiß. Auf ihrem Hals trägt sie den tätowierten Schriftzug „Askareya“, ein Begriff aus dem Arabischen, der für Kämpferin steht.
Die Profiboxerin ist seit 2021 Weltmeisterin beim Boxverband UBF und gewann 2023 den Gürtel der Deutschen Meisterschaft beim Bund Deutscher Berufsboxer. Offen spricht sie von ihrer Vergangenheit, von Rückschlägen und Zielen. Ohne das Boxen, sagt sie, „wäre ich heute nicht die, die ich jetzt bin. Boxen ist mein Leben und meine Leidenschaft“.
Aras: Viele Frauen trauten sich nicht zu boxen, „das ist schade“
Von der Decke hängen Boxsäcke herab, eine Gruppe von jungen Thaiboxern hinterlässt den aufdringlichen Geruch von Schweiß, der während einer Trainingseinheit reichlich geflossen ist. In diesem Raum verbringt Bilgenur Aras viel Zeit. Viele Frauen trauten sich nicht zu boxen, „das ist schade“, sagt sie.

Die junge Frau ist auch „Puncherrella“, das ist ihr Name in der Boxwelt, eine Anspielung auf Cinderella. Wie bei dem Mädchen aus der Disney-Version des Märchens vom Aschenputtel habe sich ihr Leben durch ihre Stiefmutter zum Schlechten verändert. „Ich habe viel Gewalt und wenig Liebe erfahren“, sagt die 29-Jährige und spricht von einer „leider schlechten Kindheit“.
Ihre Eltern stammen aus Aserbaidschan, sie selbst wird in der Türkei geboren. Im Alter von zwei Jahren kommt sie mit ihrem Vater nach Deutschland, ihre leibliche Mutter lernt sie nicht kennen. „Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meinem Vater“, erzählt sie. Mit seiner neuen Beziehung habe sich ihre Situation jedoch zunehmend verschlechtert, irgendwann sei die Schule aufmerksam geworden, dann das Jugendamt. Mit zwölf Jahren landet sie schließlich im Heim, wo sie lebt, bis sie 18 Jahre alt ist.
Das erste Training war verdammt hart
Die Verantwortlichen dort erlauben ihr, zum Box-Training zu gehen. Ein an ihrem Schuh klebengebliebener Flyer hatte sie auf die Idee gebracht. Sie erinnert sich an das Bild eines Boxhandschuhs und die Aufforderung, ins Training zu kommen. „Das war kein Zufall“, sagt die gläubige Muslimin, „das war Schicksal.“
Beim ersten Training merkt sie, „das ist verdammt hart.“ Aber sie geht wieder hin, denn „von Training zu Training hat es mir mehr von dem gegeben, was mir gefehlt hat“. Neben Liebe und Wärme fehlt ihr damals das Gefühl, wertvoll zu sein. Das Boxen wird ihr Anker.
Mit 15 Jahren trainiert Bilgenur 20-Jährige
Bilgenur Aras, genannt Bilgi, trifft auf Menschen, die an sie glauben, Trainer, Sparringpartner, Freunde. Mit 15 Jahren trainiert sie während eines Boxcamps etwa 20-Jährige: „Die haben gemacht, was ich ihnen gesagt habe. Es war ein gutes Gefühl, nicht niemand zu sein.“
Seit gut vier Jahren trainiert die ausgebildete Sport- und Fitnesskauffrau mit Ralph Bunn. „Bilgi ist selbstbewusst, sie weiß, was sie kann“, sagt er. Neben ihrem rechten Auge symbolisiert ein kleines Engels-Tattoo Gesundheit, der große Engel auf dem linken Arm steht für Schutz.
Wie wichtig beides ist, hat sie 2024 erfahren. Beim Training vor einem wichtigen Titelkampf hat sie sich das Kreuzband gerissen. Monatelang kein Sport, das hat sie zurückgeworfen. Einige Sponsoren seien abgesprungen, gerade bei Frauen, die im Sport viel schlechter bezahlt werden als Männer, ein großes Problem, ärgert sich Bilgenur Aras.
Frauen haben es schwer im Boxsport
Auch Ulrike Heitmüller weiß, wie schwer Frauen es im Boxsport haben. Die Berliner Journalistin hat vor 30 Jahren für Frauen das Recht erkämpft, überhaupt offizielle Amateur-Wettkämpfe zu bestreiten. Damals war sie Studentin der evangelischen Theologie in Tübingen und Boxerin. „Boxen ist wahnsinnig anstrengend und interessant. Ich wollte, dass es zum Breitensport werden kann“, erinnert sie sich. Außerdem hätten sich ihre Trainer – „das waren einfach Machos“ – nicht gut um sie gekümmert.
Sie hoffte, dass sich das ändern würde, wenn sie auch in Wettkämpfen antreten würde, und beantragte darum 1994 beim deutschen Amateur-Boxverband, dass auch Frauen Wettkämpfe austragen können. Der Verband lehnte ab, Heitmüller blieb hartnäckig. 1995 gab der Verband nach.
„Das Boxen macht dich sicherer“
Zum Kampfsport war sie durch ihre streng evangelikalen Eltern gekommen. „Ich durfte gar nichts, vor allem mein Vater hatte immer Angst, dass ich vergewaltigt werden könnte.“ Mit Anfang 20 löste sie sich aus dem evangelikalen Milieu, davor aber glaubte sie dem Vater, dass es vor der Haustür gefährlich ist und wollte sich wehren können. Später hatte sie auch keine Angst, wenn sie beruflich eine Rockerparty besuchte, wie sie erzählt: „Das Boxen macht dich sicherer.“ Und sie ergänzt: „Man kriegt immer etwas ab und muss trotzdem weitermachen. Das Boxen ist auch seelisches Training.“
