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Die große Lüge

Uwe Becker entlarvt die Rede von der Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft als Lüge. Nicht zuletzt weil die praktische Umsetzung der umwälzenden Idee unter falschen Voraussetzungen geschieht. Eine ernüchternde Analyse

Gerhard Seybert - Fotolia

Ein Mensch, womöglich mit einer geistigen oder körperlichen Behinderung, vielleicht auf einen Rollstuhl angewiesen, besucht den Kindergarten und danach die Schule. Zusammen mit anderen, die gesundheitlich nicht oder weniger stark beeinträchtigt sind. Später findet er einen seinen Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Selbstverständlich nimmt er in seiner Freizeit am kulturellen Leben teil. – Das ist nicht seltene Ausnahme, sondern Regel in einer „inklusiven Gesellschaft“.

Realitätsferne Träumerei?
Weit überwiegend ja: in der Gegenwart. Womöglich nicht mehr: in der Zukunft. Dann sollen Menschen mit Behinderung ungehindert am gesellschaftlichen Leben in all seinen Facetten teilhaben können.

Aktionspläne zur praktischen Umsetzung

So jedenfalls schreibt es die 2006 beschlossene Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen fest. Darin heißt es in Artikel 1: „Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“
Seit 2009 ist diese Übereinkunft auch in Deutschland in Kraft. Sie verpflichtet die politischen Akteure dazu, in allen Politikfeldern Gesetze zu verabschieden, die den Weg hin zur „inklusiven Gesellschaft“ ebnen, oder Vorgaben und Verordnungen gegebenenfalls entsprechend anzupassen. Aktionspläne zur praktischen Umsetzung, wie der 2011 beschlossene „Nationale Aktionsplan“ der Bundesregierung oder auf Länderebene etwa das „NRW inklusiv“ überschriebene Vorhaben der NRW-Landesregierung von 2012, verfolgen dieses Ziel.
In Nordrhein-Westfalen wird  das am deutlichsten im 2013 geänderten Schulrecht. „Gemeinsames Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung wird zum gesetzlichen Regelfall“, informiert das Schulministerium. Im Bildungssektor nimmt Inklusion damit bereits Gestalt an. In ersten Schritten vollzieht sich hier seit dem Schuljahr 2014/15, was auch in allen anderen Gesellschaftsbereichen eines Tages Wirklichkeit werden soll. Zu beobachten sind etwa verstärkte Bestrebungen, Menschen mit Behinderung möglichst in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu überführen. Bislang jedoch ohne nennenswerten Erfolg.
Raus aus den Sonder- und Förderschulen, rein in die Regelschule. Raus aus den Behindertenwerkstätten, rein in ein „normales“ Arbeitsverhältnis. Je besser das gelingt, um so erfolgreicher ist die Inklusionspolitik? Um so eher wird die inklusive Gesellschaft Wirklichkeit?
Fundierte Zweifel meldet da der evangelische Theologe und Sozialexperte Uwe Becker an. Der Vorstandssprecher der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (noch bis Ende August) und künftige Professor an der Evangelischen Fachhochschule RWL in Bochum (siehe Kasten) spricht sogar von einer „Inklusionslüge“, die hier verbreitet wird.
Diese Lüge – titelgebend für sein neues Buch – macht Becker im Kern daran fest, dass „in allen Aktionsplänen“ der Bundesländer zur Umsetzung der Konvention auf den „Finanzierungsvorbehalt des Haushaltsrechts“ hingewiesen werde. Im Klartext: Fehlt es an Geld, wird eben weniger gemacht.
Und an Geld fehlt es vielfach: Die öffentlichen Haushalte sind verschuldet, der Aktionsradius der Länder durch die vom Bund verordnete Schuldenbremse ist stark eingeschränkt. Statt mehr Geld in die Hand zu nehmen, wie es nötig wäre, um den Inklusionsprozess zu befördern, spekulierten viele Kämmerer in erster Linie auf Einsparungen durch die Schließung von Förderschulen sowie die Abschaffung von Behindertenwerkstätten, sagt Becker. Die Inklusionsdebatte, wie sie so über Inhalt und Praxis in der Politik geführt wird, sieht er „gefangen im Gehäuse dieser dominanten ökonomischen Logik“.  

Auslesemechanismen kaum kritisch hinterfragt

Völlig aus dem Blick gerät dabei, dass Inklusion im Grunde „einen kompletten Systemwechsel“ meint, kritisiert Becker in seinem Buch. Im Bereich Bildung bedeute das eigentlich, das dreigliedrige Schulsystem grundlegend zu reformieren. Ein System, das „ein ausgesprochen leistungsorientiertes, konkurenzbasiertes und letztlich (für die ,Verlierer‘) stigmatisierendes“ ist, wie er schreibt.
Doch diese Auslesemechanismen werden nach seiner Wahrnehmung in der Debatte kaum kritisch hinterfragt. Mehr noch vollzieht sich stattdessen unter dem Signum Inklusion eine „Einpassung in das bestehende System bis an die Grenze des Zumutbaren für alle Beteiligten“.
In der Folge befürchtet Becker auf Seiten der Lehrerschaft absehbar eine Überforderung. Und auf Seiten der Schüler mit Behinderung zeichnet sich ab, dass deren sonderpädagogischem Förderbedarf nicht im erforderlichen Umfang Rechnung getragen wird. Nicht Rechnung getragen werden kann, weil das Geld für ausreichend Fachkräfte fehlt.
Da wundert es nicht, dass nach einer aktuellen repräsentativen Umfrage unter Lehrkräften 41 Prozent von ihnen nichts vom gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung halten. Kritisch äußert sich auch eine Dortmunder Sozialpädagogin, die ungenannt bleiben möchte. Von den zwölf Kindern in ihrer zweiten Klasse an einer Förderschule hält sie gerade mal einen geeignet für die Regelschule. „Für die andern ist der behütete Raum hier viel besser als Inklusion.“
Noch schwieriger erweist sich die Umsetzung der Inklusion im Erwerbsarbeitsleben. Und auch hier werden nach Beckers Analyse in der Debatte die im System selbst angelegten ausgrenzenden Facetten – etwa nichtauskömmliche Beschäftigungsverhältnisse, (Langzeit-)Arbeitslosigkeit – ausgeblendet.
Diese unkritische Haltung, die er auch bei Inklusionsbefürwortern feststellt, macht es hier sogar möglich, Teilhabe am Erwerbsleben gleichzusetzen mit sozialer Anerkennung und Wertschätzung sowie finanzieller Selbstständigkeit und sie so gleichsam zur „moralischen Norm“ zu erheben.

Freiräume im Kleinen ermöglichen realistischer

Generell vermisst der Sozialexperte in der Inklusionsdebatte eine Erörterung der Frage, ob diese Form der Teilhabe von den Betroffenen selbst überhaupt gewünscht ist. Unbedacht bleibt so auch, was es für die Menschen selbst bedeutet, wenn Inklusion, so wie sie bisher verstanden wird, nicht gelingt. „Frustration und das verstärkte Empfinden ,nicht dazuzugehören‘, ein gesellschaftlich entwertetes Leben zu führen“, nennt Becker mögliche Auswirkungen. Insbesondere wenn „exkludierte Schonräume“ wie Förderschulen und Werkstätten zuvor bewusst umgangen wurden.
Statt fortwährend der Verwirklichung der inklusiven Gesellschaft das Wort zu reden, wäre für Becker schon viel gewonnen, wenn der mit der Konvention angestoßene Prozess eines bewirkt: „eine auf Leistung und Konkurrenz gründende Gesellschaftsorganisation, wie sie bereits im Bildungssystem ihre Sozialisierungserfolge feiert, wenigstens teilweise in Frage zu stellen und sie ansatzweise neu zu gestalten“. Ansatzweise in Frage stellen, neu gestalten im Kleinen durch „selbstbestimmte Räume der Geborgenheit in menschlichen Beziehungen, in räumlicher Umgebung, in einem als sinnvoll erachteten sozialen und kulturellen Kontext.“ Becker spricht auch von „Freiräumen zur Gestaltung der Lebenswelt im eigenen Sinn“.
Solche Freiräume zu ermöglichen, ist realistischer, das anzustreben ehrlicher, als weiter vorzugeben, die „inklusive Gesellschaft“ eines Tages Realität werden zu lassen. Es ist eine ernüchternde Bilanz, die Beckers Ausführungen nahelegen. Aber eine mit Perspektiven, wie das umwälzende Potenzial der großen Idee im Kleinen zum Tragen kommen kann.

Uwe Becker: Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus. transcript Verlag, 208 Seiten, 19,99 Euro.