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Der derzeit ranghöchste Anglikaner über Gewalt im Heiligen Land

Der Überfall der terroristischen Palästinenserorganisation Hamas auf Israel und der anschließende Krieg hat die Welt auf den Gazastreifen schauen lassen. Unterdessen nehmen Spannungen im Westjordanland zu.

Stephen Cottrell kam, um den Palästinensern zuzuhören. Dabei wurde der anglikanische Erzbischof von York in Großbritannien vor Ort Zeuge, wie jüdische Siedler gegen eine Beduinengemeinde vorgingen. “Wir müssen Wege finden, die Welt darüber zu informieren, und alles in unserer Macht Stehende tun, um Gerechtigkeit und Frieden für die Menschen im Westjordanland zu fordern”, sagt Cottrell im Anschluss an seinen viertägigen Besuch im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Jerusalem.

Als Erzbischof von York ist Cottrell seit dem Rücktritt von Primas Justin Welby Ende 2024 der ranghöchste Vertreter der Church for England. Welby designierte Nachfolgerin, die Bischöfin von London Sarah Elisabeth Mullally, wird voraussichtlich im März ihr Amt als Primas der Anglikaner und Erzbischöfin von Canterbury antreten.

Frage: Erzbischof Stephen, Sie haben Masafer Yatta besucht, das durch den oscarprämierten Film “No Other Land” bekannt wurde und dessen Bewohnern die Vertreibung durch Israel droht. Was haben Sie erlebt?

Antwort: Wie viele Menschen im Westen weiß ich, was in den besetzten Gebieten passiert. Obwohl ich theoretisch wusste, was mich erwartet, nämlich dass die Ausweitung der Siedlungen in das Gebiet der Palästinenser vordringt, war es doch zutiefst schockierend, dies tatsächlich zu sehen. In Umm al-Khair konnte man die Siedlungen in unmittelbarer Nähe sehen. Siedler haben in den vergangenen Wochen große Wohnwagen auf dem Land der Beduinen aufgestellt, direkt an der Grenze zu ihren Häusern. Wir sahen eine Art informelle Miliz, Menschen mit Sturmhauben und Waffen. Das war zutiefst einschüchternd, aggressiv und offensichtlich ungerecht. Das ist das Land der Menschen von Umm al-Khair, und jüdische Siedler verdrängen sie.

Ich bewundere die Würde der Menschen, die selbst Gewalt erlebt hatten, wie der Bruder von Awdeh Hathaleen, einem der palästinensischen Mitwirkenden von “No other Land”, der von Siedlern getötet worden war. Der Täter wurde kurz verhaftet und dann ohne Anklage freigelassen. Wir haben nicht nur die Siedlungen gesehen, wir haben den Menschen zugehört und die Einschüchterung selbst erlebt.

Frage: Können Sie uns erzählen, was Ihnen widerfahren ist?

Antwort: Während eines Treffens mit einer Frauengruppe von Umm al-Khair wurden wir informiert, dass unser Besuch die örtlichen Milizen alarmiert hat. Wir wurden aufgefordert, zu unserem Minibus zurückzukehren. Dort blockierte ein großer Geländewagen die Straße, erneut die bewaffnete Miliz und auch israelische Sicherheitskräfte. Es war sehr einschüchternd. Es gab eine kurze Pattsituation zwischen uns und ihnen, aber schließlich erlaubten sie uns, weiterzufahren. In Susya wollten wir mit dem Direktor des YMCA Bethlehem, das die Dörfer in beeindruckender Weise unterstützt, die Familie einer YMCA-Mitarbeiterin besuchen. Wir hatten uns kaum hingesetzt, als wir die Nachricht erhielten, dass die Polizei wieder da sei und wir weiterziehen müssten.

Frage: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Antwort: Nein. Der Polizist sagte halbherzig, es sei illegal, aber das ist es nicht. Wir haben Menschen in ihren Häusern besucht. Sie haben jedes Recht, in ihren Häusern zu leben. Sie sind enormen Bedrohungen durch die Siedler ausgesetzt, ohne dass die Polizei in irgendeiner Weise einschreitet. Die Mutter der YMCA-Mitarbeiterin ist von Siedlern an einem Arm so verletzt worden, dass sie momentan nur eine Hand benutzen kann. Trotzdem hat sie uns zur Begrüßung Fladenbrote mit Kräutern gebacken und uns in ihr sehr einfaches Heim eingeladen. Die Gastfreundschaft einiger der ärmsten Menschen der Welt, die unter Bedrohung und Verfolgung leben, macht demütig. Wir nahmen die Gastfreundschaft an. Das wurde uns nicht erlaubt.

Frage: Was können Sie tun können, wenn Sie wieder in England sind?

Antwort: Ich habe vor, die Geschichte zu erzählen. Ich denke, sie spricht für sich: Den Palästinensern werden selbst die grundlegendsten Freiheiten verwehrt, die Freiheit zu leben, die Freiheit, ein Dach über dem Kopf zu haben, die Freiheit, sich zu bewegen. Das Leben wird dieser Gemeinschaft genommen, so sehr, dass es nicht einmal erlaubt ist, mit Besuch im eigenen Haus zu sitzen und zu essen. Wir müssen Wege finden, die Welt darüber zu informieren, und alles in unserer Macht Stehende tun, um Gerechtigkeit und Frieden für die Menschen im Westjordanland zu fordern. Es muss eine umfassendere Lösung geben, die es den Menschen in Palästina ermöglicht, die grundlegenden Freiheiten zu genießen.

Frage: Sie haben auch christliche Gemeinden getroffen. Wie haben sie ihre spezifische Situation erlebt?

Antwort: Manchen ist nicht bewusst, dass es christliche Gemeinschaften in Palästina gibt, was erstaunt, da dies das Geburtsland Jesu ist. Obwohl in der Minderheit, gibt es starke und lebendige christliche Gemeinschaften, die mit derselben Bedrohung und Einschüchterung leben wie alle anderen auch. Besonders bewegt haben mich die Frauen, die ich in Ramallah getroffen habe. Sie haben mir ihre Situation geschildert. Sie erzählten, dass auch ihre Mütter, Großmütter und Urgroßmütter Feindseligkeit, Verfolgung und Ausgrenzung erfahren hatten. Sie forderten mich auf, ihre Geschichte zu erzählen, wenn ich nach Hause komme. Das habe ich ihnen versprochen.

Frage: Es gab offene Kritik an den Kirchen und westlichen Gemeinschaften. Man warf Ihnen Mittäterschaft durch Schweigen vor.

Antwort: Sieht man Ungerechtigkeit, bedeutet Schweigen, sich daran mitschuldig zu machen, ob man will oder nicht. Ich habe nicht nur mein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht. Ich habe mich entschuldigt, weil ich glaube, dass die Kirche von England vielleicht zu langsam war, um die Notlage des palästinensischen Volkes zu erkennen. Es war kein Schweigen, aber dem wurde nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt. Ich bin hier, um einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dies zu ändern.

Die Kirche von England hat in diesem Jahr viel klarer Stellung bezogen, etwa in unserer Empörung über die genozidalen Gewalttaten, die gegen die Menschen in Gaza verübt wurden, aber auch über die entsetzlichen Ungerechtigkeiten gegenüber den Menschen im besetzten Westjordanland, die ich jetzt mit eigenen Augen gesehen habe. Ja, wir waren langsam. Aber es ist noch nicht zu spät, unseren Einfluss zu nutzen, um dieses Thema in Großbritannien weiter nach oben auf die Tagesordnung zu bringen.

Frage: Wenige Wochen vor Weihnachten haben Sie Bethlehem besucht. Was wünschen Sie den Menschen dort?

Antwort: Wir müssen uns bewusst machen, was wir eigentlich feiern: die Geburt Christi, des fleischgewordenen Wortes – etwas, das die Welt verändert. Gott ist nicht mehr der ferne Schöpfer, sondern derjenige, der in die Angelegenheiten der Welt eingreift, der unser Leben teilt. Zweitens steht im Mittelpunkt der Weihnachtsgeschichte ein schutzbedürftiges Kind, das in eine Welt voller Gewalt, Angst und Unterdrückung hineingeboren wurde. Das sagt uns, dass Gott mit den Menschen am Rande der Gesellschaft solidarisch ist, mit denen, die leiden und nach Gerechtigkeit schreien. Ich habe diesen Schrei in so vielen Gesprächen mit Palästinensern während dieses Besuchs gehört, in Bethlehem und in ganz Palästina und Israel.

Aber ich habe auch einen tiefen Glauben an das Evangelium Jesu Christi gehört – die Frohe Botschaft von Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden, die zu Weihnachten in die Welt kommt. Deshalb müssen wir gleichzeitig Hoffnung aus der tiefen Bedeutung von Weihnachten schöpfen und auch seine Relevanz für die Menschen in Palästina heute erkennen.