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Der Berliner Appell

Pfarrer und DDR-Bürgerrechtler Rainer Eppelmann im Interview

Rainer Eppelmann (78), früher Pfarrer der Ost-Berliner Samaritergemeinde, engagierte sich in der DDR-Opposition. Vor 40 Jahren, am 25. Januar 1982, ­riefen er und der Regimekritiker Robert Havemann (1910-1982) im Berliner Appell zur Abrüstung in Ost und West auf.  Unter dem Motto „Frieden schaffen ohne Waffen“ warnten sie vor einem drohenden Atomkrieg. Ganz Europa sollte atomwaffenfreie Zone ­werden. Und sie forderten das Recht auf freie Meinungsäußerung in der DDR. Was der ­Appell bewirkte und worin sein Lebensziel ­besteht, erklärt Eppelmann im Gespräch mit ­Sibylle Sterzik.

Wie kam es zum „Berliner ­Appell“?

Robert Havemann sagte immer wieder: Wir müssen dringend etwas machen. Die Zeit ist reif. Mit dem Berliner Appell wollten wir eine ­Brücke schlagen zu den Friedens­bewegungen in Westeuropa und Nordeuropa. Es ging darum, ein ­Zeichen gegen die Gefahr eines Atomkrieges durch die atomare Aufrüstung zu setzen. Und dazu anzuregen, als DDR tatsächlich ein Friedensstaat zu sein:  auf militärische Paraden zu verzichten, kein Kriegsspielzeug herzustellen, anstelle des Wehrkundeunterrichts an Schulen einen Unterricht über Fragen des Friedens und statt des Wehrersatzdienstes, den Bausoldaten, einen sozialen Friedensdienst einzuführen.

Haben Sie Ihre Kirche vorab ­informiert?

So etwas konnten wir nicht machen, ohne darüber mit der eigenen Kirche zu reden. Manfred Stolpe, damals leitender Jurist der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, bestätigte mir: „Das ist dran!“ 

Wo der Appell veröffentlicht?

Die Kirchen lehnten es ab, den Appell von den Kanzeln zu verlesen. Sie wollten keine Partei ergreifen und Opposition zur DDR-Regierung sein. Es werde in der Kirche Leute geben, die das unterstützen, andere, DDR-freundlichere, würden sagen, das geht auf keinen Fall, hieß es damals. Also gingen wir an die west­liche Öffentlichkeit. Der Appell wurde  zunächst in der Frankfurter ­Rundschau veröffentlicht. ­Daraufhin ­interessierte sich das ZDF dafür. 

Welche Bedeutung hatte der ­Appell?

Es war ein Impuls für die Menschen in der DDR, dass sich auch bei uns etwas bewegt. Menschen bemühen sich, der Gefahr von Atomkrieg und der Zerstörung Europas und der Welt, etwas entgegenzusetzen. Und es war ein Signal an die west­liche Friedensbewegung. Die musste immer mit dem Vorwurf ihrer Regierungen leben, sie unterstütze den Warschauer Vertrag. Es war auch ein Impuls dafür, dass Friedenskreise entstanden in der Evangelischen ­Kirche in der DDR. Das fing in der Berliner Samaritergemeinde an und in der Gemeinde Alt-Pankow.  Aber auch über Berlin hinaus war der Appell das Signal, sich zu engagieren. ZDF-Leute kamen zu uns zur Friedensdekade und zum Friedenskreis.

Der Berliner Appell war also Startsignal für die Gründung vieler Friedenskreise?

So ist es.  Das folgende Friedens-Engagement übte sanften Druck aus auf die Kirchenleitung. Die Evange­lische Kirche in der DDR machte dann das Friedensthema bewusst zu ihrem Thema und unterstützte die Friedenskreise bis hin zur Friedenswerkstatt und der Friedensdekade.

Außer dem Westfernsehen interessierten sich sicher auch die DDR-Behörden dafür? 

Sie stellten Robert Havemann wieder unter Hausarrest. Mich verhörte die Stasi und inhaftierte mich im Stasigefängnis Hohenschönhausen. Die Bundesregierung erklärte nach Gesprächen mit der Kirche öffentlich, sie würde meine Verhaftung und den Hausarrest für Robert Havemann auf der Helsinki-Nachfolgekonferenz in Madrid wenige Tage später zur Sprache bringen. Das wollte Honecker auf keinen Fall, weil es seinem Wunsch, die DDR nach außen hin als Friedensstaat dastehen zu lassen, geschadet hätte. Darum sorgte er dafür, dass ich wieder rauskam. Nach 3 Tagen ließ mich die Stasi wieder frei, unter der Bedingung: Eppelmann hält jetzt die Schnauze.

Und wie reagierte die Kirche?

Ich sollte still sein. Westliche Journalisten hätten natürlich gern Interviews mit mir geführt. Ich versprach den Kirchenvertretern in Berlin, eine Woche nichts zu tun. Aber ich sprach natürlich mit Leuten aus der Gemeinde oder mit Verbündeten, die ähnlich dachten wie ich. 

Wie beurteilen Sie den Appell heute?

Als wichtig! Auf einmal entstanden Gruppen, die ihre Sorge und ihre Vorstellungen nicht nur im vertrauten Kreis äußerten, sondern auch ­öffentlich. Der Berliner Appell war ein Impuls, die eigene öffentliche Sprache wiederzufinden, der Start der Selbstbefreiung. Und das endete nachher bei Demonstrationen mit Tausenden von Menschen, die auf die Straße gingen. Sie nahmen dafür Schwierigkeiten in der Schule, beim Studium oder auch an der Arbeitsstelle in Kauf. Bis hin zum zentralen Signal vom 9. Oktober 1989 in Leipzig. Dort sagte zu Recht der dortige Superintendent: „An diesem Tag hat die Angst die Seiten gewechselt.“

Könnte man sagen, es war ein Puzzlestein für den Sturz der Mauer?

So ist es. Tatsächlich ein Stein von vielen Steinen, die zusammenkommen mussten, damit es in der DDR zur Revolution kam und zum Ende der nicht demokratisch legitimierten Herrschaft in der DDR. Weil viele Menschen in der Kirche das taten, was wir alle zuvor nicht gemacht hatten: Wir sagten öffentlich, was wir dachten. Das taten in den Kirchen nicht nur Christen, sondern auch Atheisten. Es war eine Volks­bewegung.

Bei den DDR-Behörden hat der ­Appell kein Gehör gefunden? 

Das ist richtig. Die waren so stur und fest überzeugt von ihrer eigenen Richtigkeit. Die Ermöglichung eines reinen zivilen Ersatzdienstes kam erst am Ende der DDR-Regierung. Als ich 1990 Minister Abrüstung und Verteidigung wurde, gab es auch eine Umstrukturierung des ­sogenannten Bausoldatendienstes.

Inwiefern?

Die Bausoldaten bekamen Mitspracherecht, sie wurden nicht mehr bei militärischen Übungen eingesetzt. Ich habe 1966 den Dienst mit der Waffe bei der Nationalen Volksarme (NVA) verweigert und gehörte zum zweiten Jahrgang der Bau­soldaten in der DDR, wir haben noch Kasernen mitgebaut. Wir mussten nicht schießen, aber die Schießplätze mit bauen. Insofern war der Bausoldatendienst nur ein schlechter Kompromiss. Wer Bausoldat war, konnte hinterher in der Regel auch nicht mehr studieren. Aber es war ein Kompromiss, der die Waffendienstverweigerer davor bewahrte, ins Gefängnis zu kommen. 

Sie waren Minister für Verteidigung in der letzten DDR-Regierung vom 18. März 1990 bis zu deren Auflösung im Zuge der Deutschen Einheit am 2. Oktober 1990. ­Eigentlich waren damals viele sehr erstaunt, dass Sie, der selbst den Waffendienst verweigert hatte, dieses Amt übernahmen. 

Lothar die Maiziere hatte mich gefragt, ob ich in seinem Kabinett Verteidigungsminister werde. Ich lehnte ab. Ich wäre nur bereit, Minister für Abrüstung und Verteidigung zu sein. Er stimmte zu. Und ich bin traurig darüber, dass ich bis heute der einzige bin, der auf den Gedanken kam, sein Ministeramt so zu nennen. Auch Gemeindeglieder sagten mir, sie seien verwundert, wenn nicht sogar schockiert, dass ich dieses Amt übernahm. Aber ich habe mich natürlich gefragt, was würde passieren, wenn ich es nicht mache? Sollte das etwa ein früherer Offizier der NVA übernehmen?

Konnten Sie als Minister für ­Abrüstung ­abrüsten?

Ich hatte günstige Bedingungen: Am Ende meiner Amtszeit gab es keine Nationale Volksarmee mehr. In der Zeit gab es zudem ernstzunehmende Gespräche zwischen Nato und Warschauer Vertrag beziehungsweise zwischen den USA und der Sowjetunion. 

Auch als Bundestagsabgeord­neter? Das waren Sie von der ­ersten gesamtdeutschen Wahl am 

2. Dezember 1990 bis 2005 …

Ja. Sogar Putin sprach damals im Bundestag. Wir erreichten um das Jahr 2000 eine Fülle von Ergebnissen im Bereich der Abrüstung.  Manche Historiker sagten, mit dem Jahr 2000 bricht das Jahrhundert des ewigen Friedens an. Wenn wir uns heute die Welt und Europa ansehen, sieht es fast schon wieder so aus wie zu ­Zeiten des Kalten Krieges.

Müsste heute stärker auf Friedensmissionen gesetzt werden? Brauchen wir einen neuen Berliner Appell?

Vom Inhalt her natürlich ja. Es müsste mindestens um die atomare Entwaffnung gehen. Sie bedroht alles Leben auf der Erde und unseren Planeten. Das geht nur durch Verhandlungen. Sie müssen mit vertrauensbildenden Maßnahmen beginnen. Eine Chance ist derzeit, was um die Ukraine herum passiert. Eine Lösung kann nicht ohne Kompromisse erreicht werden. Dazu muss man bereit sein, sich auch in die Schuhe der anderen hineinzustellen.

Sie haben den Berliner Appell mit dem biblischen Votum „Selig sind die Friedensstifter“ begründet. Müsste das Friedenszeugnis der Kirche heute lauter werden? 

Ich stelle es mir eindeutiger vor. Aber auch im Blick auf die Politik. Die Bürger können die Politik dazu nötigen, mehr zu tun als bisher. Das geht nur, wenn wir dazu immer ­wieder etwas öffentlich sagen. Das tut Kirche aber immer wieder. Manfred Stolpe sagte noch zu DDR-Zeiten, er sei ein Atom-Pazifist. Und ich glaube, das ist realistisch, solange es Länder gibt, die sich verhalten wie Putin mit der Annexion der Krim. Mein Traum ist, dass es Waffen nur noch bei der Polizei gibt. Aber das ist derzeit nicht realistisch.

Sie sind auch Vorsitzender der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Wird von Initiativen wie dem Berliner Appell zu wenig Notiz genommen, obwohl man davon lernen könnte?

So ist es. Wer nicht weiß, wo er herkommt, kann sich in seiner Situation heute nicht verstehen, kann die Entwicklung ab morgen eigentlich nicht in die richtige Richtung ­führen. Von daher finde ich es fatal, dass es für Schulen und Ministerien vorstellbar ist, dass es keinen ­Geschichtsunterricht mehr gibt. 

Es heißt, dass viele Schüler*innen nur noch wenig über die DDR ­wissen. Müsste da mehr gegen­gesteuert werden?

Das ist mein Lebensziel geworden. Ich werde viel in Schulen eingeladen, häufiger in Westdeutschland als in der ehemaligen DDR, was ich bedauere. Vor der Corona-Pandemie habe ich 50 bis 100 Veranstaltungen im Jahr gemacht, leider geht das derzeit nicht. Ich versuche den heute 16- bis 18-Jährigen den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie im alltäglichen Leben jedes Einzelnen deutlich zu machen. Die Schicksalsfrage von uns Deutschen ist: Musstest du in einer Diktatur 

leben oder konntest du in einer ­Demokratie leben. 

Im Februar 2023 werden Sie 80 Jahre alt. Sie wollen gern ­mindestens 93 Jahre alt ­werden. Warum gerade 93? 

An meinem 93. Geburtstag 2036 kann ich meiner Frau sagen: Ich lebe jetzt länger in der ­Demokratie, als  ich in der Diktatur gelebt habe.

Der Berliner Appell ist nachzulesen auf der Webseite www.jugendopposition.de