Verträumt zieht sich die Boysenallee vom S-Bahnhof Heerstraße durch die denkmalgeschützte Heerstraßensiedlung. Weiß geputzte Doppelhäuser mit hübschen blauen Fensterläden schmiegen sich aneinander. Rosen blühen in Vorgärten. Biegt der Besucher von der Marienburger Allee in die kurze Stichstraße ein, steht er am Haus von Paula und Karl Bonhoeffer, Dietrich Bonhoeffers Eltern. 1935 zogen sie dort mit der Großmutter ein. Die acht Kinder lebten nicht mehr im Haus.
Vier Familienmitglieder im Widerstand verloren
Das Idyll trügt. Vor 74 Jahren, am 5. April 1943, verhaftete die Gestapo im Haus Nummer 43 Dietrich Bonhoeffer. Am selben Tag seine Schwester Christine und ihren Mann Hans von Dohnanyi in dessen Dienststelle, vordergründig wegen eines Devisenvergehens und Wehrkraftzersetzung. Die Nazis ermordeten Hans von Dohnanyi am 8. April 1945 und Dietrich Bonhoeffer am 9. April wegen der Beteiligung am Widerstand gegen Hitler, Dietrichs Bruder Klaus und Rüdiger Schleicher, den Mann der älteren Schwester Ursula, am 23. April. Familie Bonhoeffer verlor zwei Söhne und zwei Schwiegersöhne im Widerstand.
Seit 30 Jahren lädt die Erinnerungs- und Begegnungsstätte im Haus der Bonhoeffers zur Auseinandersetzung mit Leben und Theologie Dietrich Bonhoeffers ein. Der Besucher begegnet auch der Familie. „Wir sind froh, dass dies kein Museum ist, sondern das, was es immer war: das Wohnhaus einer Familie. Hier wird gelacht, geweint und gelebt“, sagt Martin Dubberke, seit 2015 ehrenamtlicher Geschäftsführer und Pfarrer im Ehrenamt in der Königin-Luise-Silas-Gemeinde in Berlin-Schöneberg.
Mit seinen Söhnen und seiner Frau wohnt er im Haus, geht tagsüber seiner Arbeit als Referent beim Landesausschuss für Innere Mission (LAFIM) nach. Abends kümmert er sich um Besucheranfragen, verabredet Führungen mit Gästegruppen, plant mit dem Team von acht Ehrenamtlichen Veranstaltungen. Zum Beispiel Führungen für blinde Menschen mit Anja Winter. Selbst blind will sie mit ihnen das Haus tastend entdecken, etwa Bonhoeffers Büste.
Auch Führungen für Blinde werden angeboten
Neu ist auch, dass seit 1. Juli ein gemeinnütziger Verein die Arbeit des Hauses trägt. Die Kirchenleitung erkannte ihn als kirchliches Werk der Landeskirche an. Das Haus trägt sich vor allem durch eine landeskirchliche Kollekte alle zwei Jahre, die Vermietung der Geschäftsführerwohnung im Haus und durch Spenden. Geführt wird es komplett ehrenamtlich. Die Kirche sorgt für das Äußere des Hauses, der Verein für den Betrieb, das Innere und den Garten.
Ehrenamtlicher Vorsitzender ist Pfarrer im Ruhestand Gottfried Brezger. Er ist Bonhoeffer-Fachmann und weiß viel über den 1906 in Breslau geborenen Theologen und späteren Privatdozenten in Berlin. Martin Dubberke betont, dass Bonhoeffer bereits mit 21 Jahren promovierte, mit 24 habilitierte und in seinem 39-jährigen Leben in Briefen und theologischen Arbeiten wichtige Anstöße gab. Viele sind in der 16-bändigen Gesamtausgabe veröffentlicht.
Brezger recherchierte in New York auf den Spuren Bonhoeffers, der dort 1930/31 ein Jahr am Union Theological Seminary studierte. Doch man spürt, Bonhoeffer ist für ihn kein Heiliger. Aber einer, an dem Nachgeborene noch heute glaubwürdiges Christsein buchstabieren können: an seinem konsequenten Eintreten für die Juden in der NS-Zeit, für den Frieden in der Welt, die weltweite Ökumene und seinem klaren Bekenntnis gegen Hitlers Regime sowie der kompromisslosen Abgrenzung von der nazitreuen Glaubensbewegung der Deutschen Christen. Dazu zählt auch, wie wichtig Bonhoeffer gemeinschaftliches Leben, Spiritualität und Bibelstudium nahm, besonders im Predigerseminar der Bekennenden Kirche (BK) Finkenwalde, das er von 1935–1937 und nach der Auflösung durch die Gestapo in den illegalen Sammelvikariaten bis 1940 leitete.
Brezger erklärt, warum viele US-Amerikaner in das Haus kommen. „Bonhoeffer gilt dort als Märtyrer, als der andere Deutsche. Er stellte Christus ins Zentrum, liebte seine Familie und sein Vaterland. Und diese Art Patriotismus versteht ein US-Amerikaner sofort.“ Mehr als 80 Gruppen führte Brezger im vorigen Jahr durchs Haus, neben US-Amerikanern Kanadier, Schweden, Finnen und Holländer.
Als es an der Tür klingelt, steht Brezger auf und begrüßt eine große Gruppe aus Dallas/USA. Mehr als 25 Besucher gleichzeitig sollen es nicht sein, weil das Haus trotz 300 Quadratmeter Wohnfläche eng geschnitten ist. Aber es sind mehr. Brezger nimmt es gelassen, die Gruppe setzt sich im Ausstellungsraum an den großen Tisch. Früher befanden sich hier das Warte- und Behandlungszimmer des Psychiaters und Neurologen Karl Bonhoeffer, der 26 Jahre Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Charité war und nach seiner Emeritierung weiter praktizierte.
Aufenthaltsverbot für Bonhoeffer in Berlin
Später erzählt Brezger, einer aus der Gruppe habe gefragt, wie ein Mensch, der für den Frieden eintrat, sich an dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligen konnte. Bonhoeffer war kein Pazifist und sich bewusst, dass er Schuld auf sich laden würde, hatte Brezger geantwortet. Nachfolge im Glauben galt Bonhoeffer nicht als Prinzip, sondern als verantwortliche Entscheidung vor Gott in der konkreten Situation.
In Berlin hatte Bonhoeffer seit Anfang 1938 Aufenthaltsverbot, mit Ausnahme seines Elternhauses. Hier schrieb er an seiner „Ethik“, die posthum 1949 erschien. Seine Verlobte Maria von Wedemeyer wohnte hier während seiner Haft. Vater Karl beschäftigte sie als Sprechstundenhilfe, um sie vor einem Fronteinsatz als Rot-Kreuz-Schwester zu bewahren.
„Hier kann man tolle Geschichten erleben“, berichtet Martin Dubberke, dessen Schlafzimmer im ausgebauten Dachgeschoss an das ehemalige Studierzimmer von Dietrich Bonhoeffer grenzt. Dort wohnte er, wenn er in Berlin weilte.
Die wenigen originalen Möbel im Bonhoeffer-Haus sind sein Clavichord, das Bücherregal, das er mit Eberhard Bethge, seinem Freund und späteren Biographen, aufgebaut hatte, und sein Schreibtisch. Martin Dubberke berichtet: „Ein Theologieprofessor aus Chicago, lang wie ein Baum, schob bei seinem Besuch mühsam die Beine unter den Tisch, legte die Hände auf die Schreibplatte, schwieg eine Weile und sagte dann: ,Jetzt habe ich acht Jahre über Bonhoeffer gearbeitet, aber begegnet bin ich ihm erst hier.‘ Eine Frau aus der Flüchtlingsarbeit kam mit einem Flüchtling hierher, der von Neonazis angegriffen worden war. Sie sagte: ,Ich wollte ihm die andere Seite Deutschlands zeigen, Dietrich Bonhoeffer, der gegen die Nazis kämpfte und sein Leben riskierte‘.“
Er habe erst hier begriffen, wie sehr die Familie, dieses Haus als Ort des Widerstandes Bonhoeffer prägte. „Er konnte gar nicht anders, als so zu werden, wie er war“, resümiert Dubberke. Das Haus soll nicht nur an ihn erinnern, sondern an alle Widerstandskämpfer. Der Vater traf sich mit Friedrich von Bodelschwingh und Pastor Paul Gerhard Braune, Leiter der Hoffnungstaler Anstalten, um etwas gegen die Euthanasiemorde zu tun. Kritisch wird heute gesehen, dass Karl Bonhoeffer als Gutachter im Erbgesundheitsobergericht in Verfahren zur Zwangssterilisierung mitwirkte.
Ein wichtiger Ort, der zur Auseinandersetzung in kirchlichen, ethischen und politischen Fragen in der Nachfolge Jesu Christi herausfordert. Der Widerstand gegen die Nazis erhält Aktualität in der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus.
Viele Zimmer wurden für Studenten umgebaut
Da erstaunt es, dass Bonhoeffers Elternhaus lange warten musste, bis es wachgeküsst wurde. Obwohl die Evangelische Kirche es nach dem Tod von Karl und Paula Bonhoeffer 1951 erwarb, war es zunächst nur Pfarrwohnung von Eberhard Bethge und Sitz der Studierendengemeinde, später Studentenwohnheim. Wie Dietrich Bonhoeffer war Bethge Studentenpfarrer an der Technischen Universität Charlottenburg. Viele Zimmer wurden umgebaut, Bonhoeffer geriet in Vergessenheit.
Erst als Synodenpräses Helmut Reihlen den SPD-Politiker und Bonhoeffers Neffen Klaus von Dohnanyi traf und dieser ihn fragte, was die Kirche mit dem Haus seiner Familie zu tun gedenke, kam ein Neuanfang in Gang. Er mündete Jahre später in die Eröffnung der Erinnerungs- und Begegnungsstätte. Das geschah am 1. Juni 1987.