Die christliche Minderheit im Irak steht unter Druck. Nach der Terrorgruppe “Islamischer Staat” bedrohen sie heute schiitische Milizen. Die Bürgermeisterin und Christin Lara Youssuf Zara setzt sich dagegen zur Wehr.
Lara Youssuf Zara lebt zwischen Glaube und Gefahr. Seit 2017 ist die 43-Jährige Bürgermeisterin von Alqosh in der nordirakischen Ninive-Ebene und erste christliche Bürgermeisterin im Irak. Sie lebt unter ständiger Bedrohung: Leibwächter schützen sie Tag und Nacht. In der Ninive-Ebene, wo seit dem 1. Jahrhundert Christen leben, kämpft die chaldäische Katholikin mit Mut gegen schiitische Milizen, die Christen systematisch schikanieren und ausplündern. Für Dienstag stehen im Irak Parlamentswahlen an. Über ihre Hoffnungen und Sorgen um die Zukunft der Christen im Zweistromland sprach Zara mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Frage: Frau Bürgermeisterin, wie ist die Lage der Christen in der Ninive-Ebene heute, kurz vor den irakischen Parlamentswahlen?
Antwort: Seit dem Sturz des Regimes 2003 haben die Christen im Irak schwierige Jahre erlebt. Die Ninive-Ebene war einst das Herz unserer Gemeinschaft; heute sind nur wenige geblieben. Viele sind nach der Flucht vor der Terrormiliz “Islamischer Staat” im Jahr 2014 zurückgekehrt und leben wieder in ihren Häusern, aber offiziell gelten sie immer noch als Binnenflüchtlinge. Das liegt an den schiitischen Milizen, die verhindern, dass sie sich in den richtigen Gemeinden registrieren können. Diese Milizen blockieren Verwaltungsprozesse, verweigern Genehmigungen und nutzen die Bürokratie gezielt, um Christen entrechtet zu halten.
Frage: Wie sieht diese Schikane konkret aus?
Antwort: Christen, die zurückkehren, dürfen sich offiziell nicht in ihrer Gemeinde anmelden. Die Milizen bestehen darauf, dass ihre Akten in den alten, von ihnen kontrollierten Gebieten bleiben. Ohne gültige Registrierung sind diese Menschen Bürger zweiter Klasse: Sie können keine Grundstücke eintragen lassen, keine Arbeit aufnehmen und keine staatliche Unterstützung erhalten. Sie leben physisch hier – aber auf dem Papier existieren sie nicht. Das ist keine Verwaltungs-Panne, das ist eine gezielte Strategie, um Christen aus der Region zu drängen.
Frage: Und bei Geschäften?
Antwort: Ganz ähnlich. Wer ein Geschäft eröffnet, muss Anteile abgeben. Wenn ein Christ als Sympathisant der kurdischen Partei KDP gilt, wird sein Laden geschlossen. Andere Milizen kommen, verlangen Schutzgeld oder Anteile. So zerstören sie Existenzen. Viele Christen haben keine Hoffnung mehr. Sie wollen nur noch weg.
Frage: Welche Motive bestimmen diese Schikanen?
Antwort: In Wahrheit geht es um Geld und Kontrolle. Wer zahlt, darf weitermachen. Wer sich weigert, verliert alles. Diese Erpressung ist Teil des Systems. Sie trifft vor allem Christen, weil sie keine mächtigen Schutzpatrone haben. So wird Besitz enteignet, ohne dass jemand es offiziell ausspricht.
Frage: Wer steckt hinter diesem Vorgehen, wer ist der Kopf der Bewegung?
Antwort: Die schiitischen Milizen, die nach dem Kampf gegen den “Islamischen Staat” die Kontrolle in vielen Gebieten übernommen haben. Sie dominieren lokale Räte, Verwaltungen und Sicherheitsstrukturen. Ihre Vertreter sitzen in Stadträten und treffen Entscheidungen, die Christen bewusst benachteiligen. Diese Milizen sind nicht nur bewaffnete Gruppen – sie sind ein politisch-religiöses Machtinstrument, das das Ziel verfolgt, die christliche Präsenz in der Ninive-Ebene zu schwächen. Ihr Kopf ist Rayan al-Kildani, der Gründer der Miliz der Babylon-Brigaden sowie der Babylon-Bewegung.
Frage: Wer stützt al-Kildanis Einfluss im Alltag?
Antwort: Er hat Netzwerke aus Milizionären, Geschäftsleuten und Beamten aufgebaut. Sie kassieren Schutzgeld, blockieren Bauprojekte und halten Christen durch Bürokratie klein. Das Ziel ist klar: die christliche Präsenz ausdünnen und die Kontrolle übernehmen.
Frage: Wie beeinflusst al-Kildani die Lage der Christen?
Antwort: Er kontrolliert große Teile der lokalen Verwaltung über Vertreter seiner Bewegung. Er hat ein System geschaffen, in dem Christen nur existieren, wenn sie ihm loyal sind. Wer sich verweigert, verliert sein Haus, seine Arbeit oder wird schlicht ignoriert. So entsteht eine Art Schattenherrschaft, die alle Lebensbereiche umfasst.
Frage: Hat er auch politischen Einfluss?
Antwort: Ja, enormen. Die fünf Quoten-Sitze, die den Christen im irakischen Parlament zustehen, standen bisher de facto unter seiner Kontrolle. Er bestimmt, wer kandidieren darf, und kauft Stimmen mit Geld aus dem Iran. Er hat damit unsere politische Vertretung usurpiert. Viele im Westen glauben, Christen hätten eine Stimme im Parlament – in Wirklichkeit spricht diese Stimme für Teheran.
Frage: Welche Rolle spielt dabei die kurdische Regionalregierung?
Antwort: Die Kurden, insbesondere ihre Streitkräfte, die Peschmerga, haben uns in Alqosh Schutz gewährt. Deshalb ist unsere Stadt heute sicherer als viele andere Orte. Ohne sie wären die schiitischen Milizen längst hier. Doch ihre Macht endet an bestimmten Grenzen – jenseits davon bestimmen die Milizen, wer leben darf und wer nicht.
Frage: Wie reagieren die Menschen auf diesen Druck?
Antwort: Viele geben auf und wandern aus. In Alqosh leben heute noch rund 3.000 bis 4.000 Christen, im gesamten Bezirk weniger als 5.000 – vor zehn Jahren waren es doppelt so viele. Jede Familie, die geht, reißt eine Lücke. Wenn dieser Trend anhält, wird es bald keine christlichen Gemeinden mehr in der Ninive-Ebene geben.
Frage: Was erwarten Sie von den kommenden Parlamentswahlen?
Antwort: Wir befürchten, dass sie manipuliert werden. Unser Gegner – Rayan al-Kaldani – hat enorme finanzielle Mittel und politischen Einfluss. Er hat bisher vier der fünf Sitze im Parlament, die für Christen reserviert sind. Wir hoffen, wenigstens zwei zurückzugewinnen.
Frage: Wer ist dieser Rayan al-Kildani – und warum ist er für Sie so gefährlich?
Antwort: Er stammt wie ich aus Alqosh. Früher war er Christ; heute führt er die Babylon-Bewegung – eine Miliz, die vorgibt, Christen zu vertreten. In Wahrheit steht er unter dem Einfluss des Iran. Er hat Verbindungen zur Al-Quds-Brigade, der Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden, und zu deren Kommandeur Ali Khan. Er nennt ihn sogar seinen Freund. Kildani ist kein religiöser Führer – er ist ein Machtpolitiker, der unsere Identität missbraucht, um Kontrolle zu gewinnen.
Frage: Was erhoffen Sie sich von der internationalen Gemeinschaft?
Antwort: Schutz und Druck. Wir brauchen internationale Beobachter bei den Wahlen, politische Unterstützung und humanitäre Hilfe. Die Amerikaner haben inzwischen verstanden, dass es hier um das Überleben einer ganzen Glaubensgemeinschaft geht. Europa scheint das noch nicht erkannt zu haben.
Frage: Was wünschen Sie sich konkret von Deutschland?
Antwort: Dass Deutschland nicht nur diplomatisch spricht, sondern handelt. Dass es Projekte für Sicherheit, Bildung und Wiederaufbau unterstützt. Dass es Druck auf Bagdad ausübt, die Milizen zu entwaffnen. Und dass es klar sagt: Wer Christen verfolgt, darf kein Partner des Westens sein.
Frage: Was passiert, wenn sich die Lage nicht verbessert?
Antwort: Dann werden die letzten Christen den Irak verlassen. Wir haben bereits mehr als eine Million Menschen verloren. Wenn auch die verbliebenen 200.000 oder 300.000 fliehen, wird es kein Christentum mehr im Irak geben. Dann ist unsere Geschichte hier zu Ende.
Frage: Gibt es Zeichen der Veränderung?
Antwort: Ja, kleine. Rayan al-Kaldani verliert Verbündete. Eine seiner wichtigsten Unterstützerinnen, die frühere Flüchtlingsministerin aus Basra, hat ihn verlassen. Auch in seiner eigenen Bewegung gibt es Spaltungen. Das zeigt, dass er nicht unbesiegbar ist – dass Macht, die auf Angst gebaut ist, irgendwann bricht.
Frage: Was würde ein Ende des Christentums im Irak für Sie persönlich bedeuten?
Antwort: Es wäre, als würde ein Teil meiner Seele ausgelöscht. Wir sind die älteste christliche Gemeinschaft der Welt. Wenn wir verschwinden, geht ein Stück Weltgeschichte verloren – und ein Teil der Menschheit mit uns.
Frage: Sie sprechen oft von Hoffnung. Woher nehmen Sie sie?
Antwort: Aus dem Glauben – und aus dem Mut der Menschen hier. Trotz allem bauen sie ihre Kirchen wieder auf, schicken ihre Kinder zur Schule, feiern Weihnachten. Das ist unsere Antwort auf den Hass: weiterzumachen, an Gott und an das Leben zu glauben.
Frage: Was möchten Sie den Menschen in Europa sagen, die dieses Interview lesen?
Antwort: Vergesst uns nicht. Hinter jeder zerstörten Kirche steht eine Familie, die glaubt. Hinter jedem Flüchtling steht ein Kind, das in Frieden leben will. Wir brauchen nicht nur euer Mitgefühl – wir brauchen eure Stimme, euren Schutz, eure Solidarität.