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Bundesarchiv-Präsident über Stasi-Unterlagen und andere Dokumente

In Berlin, aber auch in anderen ostdeutschen Städten wie Cottbus, Erfurt oder Gera, stehen 15.500 Säcke mit Papierschnipseln. Beim Bundesarchiv knabbern sie immer noch an dem Erbe der vor 75 Jahren gegründeten DDR-Stasi.

Seit Mai 2011 leitet Michael Hollmann (63) das Bundesarchiv. Er ist damit Herr über Millionen von Akten, Fotos und Filmen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur jüngsten Vergangenheit. Vor vier Jahren kam das Stasi-Unterlagen-Archiv hinzu. Seither hat das Bundesarchiv 23 Standorte in ganz Deutschland. Hauptdienststelle ist Koblenz. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht Hollmann über Herausforderungen der Zukunft. Und SMS von Angela Merkel.

Frage: Herr Professor Hollmann, vor 75 Jahren wurde die Stasi in der DDR gegründet. Seit 2021 gehört das Stasi-Unterlagen-Archiv zum Bundesarchiv. Werden die Dokumente mehr als 35 Jahre nach dem Fall der Mauer noch nachgefragt?

Antwort: Die Anfragen von Betroffenen nach ihren Akten haben zwar kontinuierlich abgenommen, aber immerhin sprechen wir von insgesamt knapp 3,5 Millionen Bürgeranträgen seit 1991. Es gibt einen soliden Sockelbestand von jährlich knapp 30.000 Anträgen, der in den vergangenen Jahren stabil geblieben ist.

Frage: Wird sich daran absehbar noch etwas ändern?

Antwort: Irgendwann sind es nicht mehr nur die unmittelbar Betroffenen, sondern vor allem ihre Kinder und Enkel, die wissen wollen, was in der DDR geschehen ist. Dieses Generationenschema erleben wir seit Jahren am Beispiel des Zweiten Weltkriegs. Jedes Jahr fragen rund 75.000 Menschen beim Bundesarchiv an, weil sie wissen wollen, was ihren Verwandten zwischen 1939 und 1945 widerfahren ist.

Frage: Wie groß ist das Interesse von Forscherinnen und Forscher an den Unterlagen der Stasi?

Antwort: Es gibt zwar unglaublich viele Bücher über die DDR. Aber quellenbasierte Arbeiten, bei denen die Autorinnen und Autoren im Bundesarchiv gearbeitet und die Akten eingesehen hätten, sind weiterhin vergleichsweise rar gesät. Das Potential der Stasi-Unterlagen ist noch lange nicht ausgeschöpft. Das gilt aber auch für die Akten der DDR-Ministerien, der Staatspartei SED sowie von NVA und Grenztruppen – und erst recht für die Massenorganisationen wie den FDGB oder die FDJ. Deren Rolle für die Repression im Alltag wird nach meinem Dafürhalten noch nicht angemessen berücksichtigt.

Frage: Wirklich?

Antwort: Die DDR war eine durch und durch sozialdisziplinierte Gesellschaft. Das lief vor allem über die Massenorganisation. Egal ob jemand beim Demokratischen Frauenbund war, bei der Gesellschaft für Sport und Technik, beim Jugendverband FDJ oder der Gewerkschaft FDGB: Die Menschen standen ständig unter Beobachtung, nicht allein durch die Stasi, sondern auch durch Funktionsträger etwa im Sport- und Freizeitbereich.

Frage: Zuletzt erschienen mehrere Bücher, die stärker die ostdeutsche Perspektive in den Mittelpunkt stellten und beispielsweise auf das Alltagsleben in der DDR abhoben. Fanden solche Stimmen bislang zu wenig Gehör?

Antwort: In gewisser Weise ja. Aber das, was viele Menschen vermissen, die Anerkennung ihrer persönlichen Lebensleistung, lässt sich nicht durch eine Verklärung des Alltags in einer Diktatur und eine Relativierung des repressiven Charakters des SED-Staats gewinnen.

Frage: Kurz vor der Wende hat die Stasi massenhaft Akten geschreddert. Kommen Sie bei der Rekonstruktion voran?

Antwort: In Berlin und anderen Standorten in Ostdeutschland liegen immer noch 15.500 Säcke mit sogenannten vorvernichteten Materialien. Diese “Schnipsel”, wie sie landläufig genannt werden, müssen bis auf weiteres immer noch von Hand zusammengepuzzelt werden – eine extrem arbeitsintensive und schwierige Arbeit.

Frage: Gab es aber nicht schon Versuche, das Verfahren mit Computerhilfe zu beschleunigen oder zumindest zu vereinfachen?

Antwort: Es gab ein Pilotprojekt mit dem Fraunhofer-Institut. Allerdings erwies sich dieses Verfahren nicht als massentauglich. Tatsächlich ist jeder dieser Säcke aber ein 20.000-Teile-Puzzle – ohne Vorlage! Dafür braucht es ein massentaugliches Verfahren, das es bislang leider noch nicht gibt. Wir bleiben aber an dem Thema dran.

Frage: Die Stasi-Unterlagen machen nur einen Teil des Bundesarchivs aus. Wie groß sind die Gesamtbestände?

Antwort: Wir haben derzeit circa 540 Kilometer Akten. Würde man die stapeln, erreichte man fast das Hubble-Weltraumteleskop. Jedes Jahr kommen etwa 1,5 Kilometer neu dazu.

Frage: Reicht der Platz, den Sie haben, aus?

Antwort: Wir haben unsere Kapazitätsgrenzen erreicht und benötigen dringend zusätzlichen Magazinraum. Im Bereich des Stasi-Unterlagen-Archivs genügen die meisten Magazine auch nicht den archivfachlichen Standards. Hier drohen unwiederbringliche Verluste allein als Folge mangelhafter Unterbringung.

Frage: Und da gibt es ja auch noch digitale Archivalien…

Antwort: Dabei handelt es sich zum einen um Digitalisate von analogen Archivalien, die wir aus Sicherungsgründen digitalisieren. Zum anderen erhalten wir vermehrt genuin digitale Unterlagen – aktuell jährlich etwa 6 Petabyte.

Frage: Ein Petabyte sind 1.024 Terabyte – eine unvorstellbar große Datenmenge…

Antwort: …, deren größter Anteil Filme sind.

Frage: Warum das?

Antwort: Alle mit öffentlichen Mitteln geförderten Filme gehen in einer Kopie ins Bundesarchiv. Ein Tonfilm, 90 Minuten in Farbe, hat rund 10 Terabyte Speicherbedarf. Dagegen fallen die digitalen Akten und Daten aus Bundesministerien und -behörden derzeit noch kaum ins Gewicht.

Frage: Was ist mit den SMS, die Angela Merkel während ihrer Kanzlerschaft geschickt hat?

Antwort: Solche Kommunikation bekommen wir derzeit überhaupt nicht, schon weil es zumindest bis vor kurzem keine Anwendungen gab, mit denen man die Social-Media-Konten in archivfähige Formate hätte überführen können. Bisher gilt der Grundsatz: Wenn etwas wichtig ist, dann muss es verschriftlicht und einer Akte zugeführt werden, die gegebenenfalls auch digital sein kann. In der Praxis findet das aber oft nicht mehr statt.

Frage: Klingt, als fänden Sie das bedauerlich.

Antwort: Uns drohen erhebliche Überlieferungsverluste, was die Dokumentation von politischen Entscheidungen und Entwicklungen angeht. Die sind nicht nur für das Archiv und die künftige historische Forschung dramatisch, sondern auch für die Gegenwart.

Frage: Wieso?

Antwort: Auf welche Informationen will sich ein Ministerium bei seinen Entscheidungen stützen, wenn letztendlich flüchtige Medien der einzige Niederschlag von Kommunikation sind? Früher war Kommunikation gleichzeitig auch Dokumentation. Das hat man mehr oder weniger über Bord geworfen, ohne etwas Neues an die Stelle zu setzen. Nach meinem Dafürhalten gefährdet diese Entwicklung das Transparenzversprechen von Politik und Verwaltung in einer Demokratie und führt am Ende zu einem erheblichen Verlust von Vertrauen aufseiten der Bürgerinnen und Bürger.

Frage: Befürchten Sie, dass der Aufstieg der AfD die Archive unter zusätzlichen Druck setzt?

Antwort: Ich möchte nicht zynisch klingen, aber autoritär veranlagte Menschen und Regime neigen eher zum Sammeln von Daten als zum Vernichten. Selten entstehen mehr Unterlagen, als wenn Systeme versuchen, eine Gesellschaft unter Kontrolle zu halten. Das haben wir in der DDR erlebt. Grund zur Sorge besteht dann, wenn ein autoritärer Staat die Kontrolle über die Archive übernehmen und die liberale Zugangspraxis außer Kraft setzen würde. Da sehe ich uns aber noch lange nicht.