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Briefwechsel, Tagebücher und mehr – Leo-Baeck-Institut wird 70

1945 erlebt Werner T. Angress einen besonderen Muttertag mit seiner Familie. Nur einer fehlt – und kommt auch nicht wieder. Dieses Schicksal und weitere Geschichten von Juden bewahrt und erforscht das Leo-Baeck-Institut.

“Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass ich sie lebend gefunden habe.” Das schreibt Werner T. Angress im Mai 1945 an seinen Freund Bo. Wen er lebend gefunden hat? Seine Mutter und seine zwei Brüder – und das am Muttertag. Angress selbst war einige Jahre zuvor in die USA eingewandert. Eigentlich wollte seine komplette Familie vor den Nazis fliehen, hatte jedoch nicht die finanziellen Mittel. So schickte sie den Sohn vor, der die Immigration in den USA vorbereiten sollte. Seine Familie blieb in den Niederlanden.

Am D-Day kam Angress, der nie zuvor mit einem Fallschirm gesprungen war, als Fallschirmjäger zurück nach Europa. Nachdem er kurz in deutscher Gefangenschaft war, kämpfte er in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, ehe er sich nach Kriegsende auf die Suche nach seiner Familie machte.

Seine Mutter berichtete ihm, dass sein Vater 1942 nach Auschwitz deportiert worden war. Zuletzt hätten sie vor zwei Jahren von ihm gehört. “Und doch habe ich die Hoffnung, dass er eines Tages auftauchen wird. Es gibt noch eine Chance.” Doch schon wenige Tage später erfuhr Angress, dass sein Vater im Januar 1943 in Auschwitz ums Leben gekommen war.

Angress berichtete seinem Freund Bo auch über das Schicksal ihrer gemeinsamen Freunde: “Von den meisten unserer Freunde, Bo, gibt es schlechte Nachrichten. 75 wurden in Mauthausen als Versuchskaninchen für Giftexekutionen getötet.”

Datiert ist der Brief auf den 18. Mai 1945, wenige Tage nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. Als Ort gibt Angress in diesem wie auch in anderen Briefen “Somewhere in Germany” – irgendwo in Deutschland – an.

Diesen Brief, ein Tagebuch und viele weitere Dokumente aus dem Nachlass von Angress bewahrt das Leo-Baeck-Institut (LBI) in seiner Berliner Dependance auf. In diesem Jahr blickt das Institut zurück auf sein 70-jähriges Bestehen und feiert das mit Veranstaltungen an allen drei Hauptstandorten in Jerusalem, London und New York.

Auch in Berlin – die Einrichtung ist dem New Yorker Standort angegliedert – wird gefeiert. Am Dienstag lädt das LBI in Berlin zu einer Festveranstaltung mit einer Rede des österreichischen Schriftstellers und Historikers Doron Rabinovici ein. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist Schirmherr des Jubiläumsjahres.

Einen Standort des Instituts in Deutschland konnten sich dessen Gründungsväter und -mütter, unter ihnen die Publizistin Hannah Arendt und der Philosoph Martin Buber, selbst nicht vorstellen. Am 25. Mai 1955 gründeten sie das LBI, um Zeugnisse des deutschsprachigen Judentums zu retten, die die Nazis nicht zerstört hatten. Noch heute übergeben Familien Vor- und Nachlässe an das Institut. Im vergangenen Jahr waren es laut der Berliner Direktorin des LBI New York, Miriam Bistrovic, 125 laufende Meter in Berlin und New York.

In Berlin können Teile des Bestands im Jüdischen Museum eingesehen werden. Darunter sind auch Stücke, die sich im New Yorker Archiv befinden. Anders als in der deutschen Niederlassung ist dort ein Großteil der Bestände bereits digitalisiert. In Deutschland sind die Datenschutzregelungen strenger, weshalb eine Digitalisierung der Dokumente nicht ohne weiteres umgesetzt werden kann, wie Bistrovic erklärt. Im Archiv reiht sich ein dunkelgrüner Karton an den nächsten. Prall gefüllt mit in mühevoller Detailarbeit gesichtetem und katalogisiertem Material.

Auch Angress’ Nachlass ist hier zu finden. Blättert man in seinem Tagebuch, fällt die Seite mit Einträgen von Anfang September 1939 auf. Die Einträge sind kurz, jeweils nur wenige Zeilen lang. Zwischen Kurzzusammenfassungen seiner Tage findet sich am 1. September der Satz “Deutschland ist in Polen einmarschiert.” Oder zwei Tage später der Eintrag: “England hat Deutschland den Krieg erklärt, dgl. Frankreich! Wie lange wird es dauern? Wie wird er enden? Wie werde ich mich ihm stellen? Ich weiss es nicht.” Wenige Tage später enden die Einträge. Erst nach dem Krieg nimmt Angress das Ritual wieder auf.

Das Leo-Baeck-Institut schafft die Möglichkeit, sich mit dem persönlichen Schicksal von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu beschäftigen. Viele Familien wissen ihre historischen Bestände hier in guten Händen und machen sie so der Allgemeinheit zugänglich. So kann das LBI auch 70 Jahre nach der Gründung seine Mission erfüllen und das deutschsprachige jüdische Erbe bewahren und erforschen.