Die Koalition wollte das Gemeinnützigkeitsrecht erweitern. Weil das bislang noch nicht passiert ist, sehen Organisationen, die gegen rechts kämpfen, ihre Existenz bedroht – und wenden sich nun an den Kanzler.
Mehr als 100 Vereine und Stiftungen sehen ihr Engagement gegen Rechtsextremismus durch Untätigkeit der Bundesregierung akut gefährdet. Sie haben sich hilfesuchend an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gewandt. “Wir alle werden in unserem Engagement durch das Gemeinnützigkeitsrecht behindert. Es gefährdet unsere Arbeit”, heißt es in dem am Montag veröffentlichten Brief, über den zunächst der “Spiegel” berichtet hatte. Die meist in Ostdeutschland aktiven Organisationen rufen den Kanzler und die Regierung dazu auf, das Gemeinnützigkeitsrecht zu ändern.
“Nur eine zügige Reform kann verhindern, dass in den nächsten Monaten immer mehr Vereine Probleme bekommen und sich zurückziehen”, steht in dem Schreiben aus der Zivilgesellschaft. Die Unterzeichner beklagen, dass sie mit der Aberkennung ihrer Gemeinnützigkeit rechnen müssen, wenn sie sich politisch engagieren. Finanzbehörden drohten ihnen mit dem Verlust des gemeinnützigen Status, weil ihr Einsatz für Grundrechte als “einseitig” beanstandet werde.
Die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP hatten sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, das Gemeinnützigkeitsrecht zu reformieren und die Zwecke der Gemeinnützigkeit zu erweitern und zu konkretisieren. Hintergrund ist unter anderem ein Urteil des Bundesfinanzhofs von Anfang 2019. Das Gericht hatte mit Blick auf das Anti-Globalisierungsnetzwerk Attac geurteilt, dass Tätigkeiten der politischen Bildung, die darauf abzielen, politische Entscheidungen und die öffentliche Meinung im Sinne eigener Auffassungen zu beeinflussen, nicht gemeinnützig seien und daher keinen Anspruch auf Steuervorteile hätten.
Die Bundesregierung erörtere aktuell noch, welche konkrete Regelung geeignet sei, um die im Koalitionsvertrag formulierten Ziele zu erreichen, sagte ein Sprecher des Bundesfinanzministeriums am Montag vor Journalisten. Die Vereine warfen der Regierung vor, auch im Entwurf für das Jahressteuergesetz 2024 keine Änderung vorzusehen. Dieses sei “die letzte Chance, die gesetzlichen Änderungen vor der Bundestagswahl vorzunehmen”.
Zudem werfen die Organisationen der AfD vor, mit Hilfe der aktuellen Rechtslage Demokratiearbeit zu sabotieren, indem die Partei Initiativen anschwärze. Die Unterzeichner sind überwiegend kleine Organisationen aus Wohlfahrtspflege, Sport, Kultur und Bildung, Natur- und Umweltschutz sowie Demokratiearbeit. Die meisten sind im ländlichen Raum tätig.
Als gemeinnützig werden Organisationen und Initiativen anerkannt, wenn sie “die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos fördern”. Wer als gemeinnützig anerkannt ist, ist steuerlich begünstigt und kann Spenden und Zuwendungen annehmen.
Der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Christoph Heubner, sagte, Überlebende deutscher Konzentrations- und Vernichtungslager unterstützen den Brief “gerade aus eigenen Erinnerungen heraus mit großem Nachdruck”. Die Strategie rechtsextremer Parteien, in ihrem Kampf gegen die Demokratie “Schwachstellen bestehender Gesetze und Verordnungen geschickt auszunutzen, um demokratische Initiativen und Vereine zu verunsichern und zu bekämpfen, ist ihnen bestens bekannt”.
Der Vorstand der Allianz “Rechtssicherheit für politische Willensbildung”, Stefan Diefenbach-Trommer, erklärte, es wäre wichtig, das Recht der Zivilgesellschaft “sturmfest für anti-demokratische Unwetter zu machen und das Gemeinnützigkeitsrecht ins 21. Jahrhundert zu bringen”. Neue Zwecke der Gemeinnützigkeit oder Klarstellungen zu politischer Einmischung ins Gesetz aufzunehmen, würden keinen Steuer-Euro kosten. “Das Nicht-Handeln dagegen kostet demokratisches Engagement.” Die Allianz ist ein Zusammenschluss von rund 200 Vereinen und Stiftungen.