Rund 80.000 gehörlose Menschen leben in Deutschland. Sie seien eine marginalisierte Gruppe, sagt der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Er dringt auf Tempo bei der Reform des Behindertengleichstellungsgesetz, um das Recht auf Teilhabe für taube Menschen zu verbessern.
epd: In der kommenden Woche ist der internationale Tag der Gebärdensprachen verbunden mit einer Woche der Gehörlosen. In Deutschland gibt es rund 80.000 gehörlose Menschen. Wie ist deren Situation?
Jürgen Dusel: Sehr unterschiedlich, weil die Gruppe sehr heterogen ist. Es gibt gehörlose Menschen – taube Menschen sage ich lieber -, die von Geburt an taub sind. Andere Menschen sind später durch eine Erkrankung ertaubt, haben also vorher Lautsprache gelernt. Innerhalb der Community läuft die Kommunikation für die Menschen gut, wenn sie Gebärdensprachkompetenz haben. Aber bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Mehrheitsgesellschaft gibt es viele Baustellen. Taube Menschen sind eine marginalisierte Gruppe.
epd: Wo macht sich das bemerkbar?
Dusel: Quasi überall, bei der Kommunikation mit Behörden, aber auch im privaten Bereich. Taube Menschen stoßen in vielen Bereichen auf Probleme, bei der Arbeitssuche oder wenn sie eine Wohnung suchen, insbesondere bei der angespannten Lage etwa hier in Berlin. Oft ist es nicht möglich, sich bei einer Wohnungsbesichtigung zu artikulieren oder überhaupt mit dem Makler zu kommunizieren. Dafür brauchen sie eine Gebärdensprachverdolmetschung und da haben wir in Deutschland echt ein Defizit.
epd: Wie ist das zu beseitigen?
Dusel: Rein rechtlich ist es zurzeit noch so, dass Private nur in ganz kleinen Ausnahmebereichen in der Pflicht sind, für barrierefreie Angebote zu sorgen. Ich möchte, dass private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen, die für die Allgemeinheit bestimmt sind, zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Das gilt beispielsweise, wenn jemand zur Bank geht, eine Wohnung sucht oder beispielsweise privat touristisch unterwegs ist. Der Gesetzesentwurf zur Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes aus dem Arbeits- und Sozialministerium liegt nun endlich vor. Ich hoffe, dass er nach der Ressortabstimmung zügig in die Länder- und Verbändebeteiligung geht.
epd: Das klingt nach einer umfangreichen und teuren Reform.
Dusel: Ich will, dass Verabredungen aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt werden. Zum ersten Mal hat eine Regierungskoalition darin gesagt: Wir wollen, dass Deutschland in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens barrierefrei wird. Das war ein großes Versprechen. Jetzt muss es gehalten werden. Sicher kann man dann auch über finanzielle Unterstützung reden.
epd: Sie sagen, auch bei Behörden gibt es Probleme. Welche sind das?
Dusel: Es ist zum Beispiel so, dass taube Menschen in aller Regel erst einmal eine Verdolmetschung in Deutsche Gebärdensprache beantragen müssen. Diese Menschen haben im Ausweis das Merkzeichen „Gl“ für „gehörlos“. Damit ist eigentlich klar, dass sie eine Gebärdensprachverdolmetschung brauchen. Offensichtlich reicht es im Rathaus oder Bürgeramt aber nicht, diesen Ausweis hochzuhalten. Sie müssen ein Formular ausfüllen, um eine Verdolmetschung zu bekommen. Das ist Bürokratie, belastet die Leute – in der Verwaltung genauso wie die Betroffenen selbst – und am Ende stellt sich sowieso heraus, dass sie Gebärdensprachverdolmetschung brauchen.
epd: Das Formular sollte man also abschaffen?
Dusel: Ich kann das nicht anweisen, aber ja, das wäre für mich eine Frage des gesunden Menschenverstandes. Diese Formulare müssen ja auch bearbeitet werden. Mein Credo ist: Macht die Dinge einfacher! Die Verwaltung will doch bürgernah sein.
epd: Dafür muss es aber auch genügend Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher geben. Gibt es die?
Dusel: Nein, da haben wir ein sehr großes Problem. Teilweise müssen Leute über Wochen im Voraus Gebärdensprachleistungen bestellen. Es gibt keine validen Zahlen, aber schätzungsweise gibt es in Deutschland so 800, vielleicht 900 Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher – und 80.000 taube Menschen, die das brauchen. Das ist ein Problem, wenn etwa taube Eltern am Elternabend in der Schule teilnehmen wollen. Oder ein extremes Beispiel: Wie erklärt jemand in der Notaufnahme, dass er starke Schmerzen hat, wenn er nicht sprechen kann? Die Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache erst seit 2002 in Deutschland anerkannt. Andere Länder waren da schneller. Entsprechend hat sich auch der Markt der Gebärdensprache langsamer entwickelt. Wir haben nur ein paar Orte, wo man das lernen kann.
epd: Haben Sie eine Idee, wie man mehr Leute dafür gewinnen kann?
Dusel: Wir müssen dafür sorgen, dass der Beruf attraktiver wird und dass wir bessere Ausbildungsbedingungen haben. Ich glaube aber auch, dass das Bewusstsein für die Bedeutung von Gebärdensprache noch fehlt. Stellen Sie sich vor, man könnte Deutsche Gebärdensprache als Wahlpflichtsprache in der Schule lernen, als zweite oder dritte Sprache statt Spanisch oder Russisch zum Beispiel. Das wäre cool.
epd: Wäre das nicht übertrieben, wenn es gar nicht so viele Menschen absehbar anwenden können?
Dusel: Einige Kolleginnen und Kollegen hier im Team haben so einen Kurs gemacht, weil wir einfach der Meinung sind, das ist auch eine Frage des Respekts. Wir wollen mit Menschen, die taub sind, zumindest in den Grundlagen kommunizieren können. Übrigens eröffnet sich da auch eine ganz andere Welt. Man versteht, dass die Grammatik komplett anders ist, und versteht auch, dass Menschen, die von Geburt an taub sind und die Deutsche Gebärdensprache gelernt haben, die deutsche Schriftsprache nicht automatisch verstehen können. Viele denken ja, wenn man nicht hören kann, dann kann man doch zumindest irgendwie einen Text lesen. Das ist nicht so. Die deutsche Sprache ist für die meisten Menschen, die von Geburt an taub sind, eine Fremdsprache wie für andere vielleicht Portugiesisch.
epd: Sie sagen immer „taub“ statt „gehörlos“. Ich dachte, der Begriff ist veraltet.
Dusel: Ich habe einen Mitarbeiter im Team, der taub ist und den Begriff bewusst nutzt. Ich weiß, dass die Community „taub“ nutzt und gleichzeitig gibt es immer noch den Deutschen Gehörlosenbund. Es ist letztlich der Streit um des Kaisers Bart. Ich bin noch nicht dafür kritisiert worden, dass ich „taub“ benutze. Schlimm finde ich aber „taubstumm“, weil das suggeriert, dass diese Menschen keine Sprache haben. Aber die haben sie – die Gebärdensprache.