Ein literarisches Debüt mit 57 Jahren – und dann auch noch mit einem Roman über Erich Kästner: Tobias Roller aus Au bei Freiburg hat offensichtlich wenig Scheu vor Herausforderungen. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) erläutert er, was ihn mit dem vor 50 Jahren gestorbenen Kästner verbindet. Und warum er in seinem Erstlingswerk ganz bewusst auf gendergerechte Sprache verzichtet hat.
KNA: Herr Roller, in “Der Goldhügel” beschäftigen Sie sich mit dem großen Schriftsteller Erich Kästner. Hatten Sie keine Angst, sich bei Ihrem Debütroman über dieses literarische Schwergewicht zu verheben?
Roller: “Der Goldhügel” ist nicht mein erster Roman – aber der erste, der einen Verlag gefunden hat. Kästner begleitet mich seit meiner Kindheit, als Jugendlicher habe ich mich für seine Lyrik begeistert, die dann auch Vorbild für eigene Dichtungen wurde. Also: Kästner ist mir in Fleisch und Blut übergegangen. Aber natürlich bedarf es einer gewissen Ehrfurcht, eines Respekts für ein Unterfangen wie “Der Goldhügel”, aber auch eines gewissen Mutes und Vertrauen in die eigene literarische Fähigkeit.
KNA: Gab es einen Auslöser für die Arbeit am Roman?
Roller: In gewisser Weise war das der Corona-Lockdown 2021. Es war ein trüber Wintertag, der letzte Roman war gerade abgeschlossen, ich wollte mich einem neuen Projekt widmen. Einer, der glaubt, Schriftsteller sein zu wollen, ist immer auch ein Getriebener. Und da stieß ich eben auf diesen späten Kästner, der sich damals selber in einer Art Lockdown befand, und zwar in einem physischen wie auch psychischen.
KNA: Von Kästner heißt es immer, er sei zwar ein grandioser Schriftsteller gewesen, aber privat ein, nun ja, eher schwieriger Typ. Stimmt das?
Roller: Kästner hatte einen höchst widersprüchlichen Charakter. Ich glaube, er lag ein Leben lang im Kampf mit sich selbst und seinen Mitmenschen, vor allem mit den Frauen, die er in unglaublicher Weise geradezu “verschlissen” hat. Das mag verwundern angesichts seines Werks. Aber Kästner war ein Moralist, der keiner ist. Man sollte sich davon unabhängig von der Illusion verabschieden, dass hochbegabte Dichter auch gute Menschen sind. Kästner ist dafür ein Paradebeispiel. Ich empfand es als reizvoll, mich dieser Ambivalenz literarisch zu widmen, die uns ja letztlich allen zu eigen ist.
KNA: Warum haben Sie sich ausgerechnet den alternden Erich Kästner vorgeknöpft?
Roller: Ich habe ein gewisses Faible für den Verfall. In seinen späten Jahren war Kästner nun mal ein Mann, der vor allem körperlich in einem Verfallszustand war nach seiner Tuberkulose, dazu ein schwer suchtkranker Mensch, der nicht aufgehört hat zu rauchen und zu trinken. Ein hochbegabter Mann, der gleichzeitig schlecht mit sich umgeht: Das fand ich spannender als einem aufstrebenden jungen Journalisten zu folgen, der dann auch literarischen Erfolg hat.
KNA: Die historische Kulisse für “Der Goldhügel” bildet ein Kuraufenthalt Kästners 1962 auf dem Collina d’Oro in Agra über dem Luganer See. Wenn wir Thomas Mann und Davos nehmen oder Heinrich Hesse und den Monte Verita: War die Schweiz für deutsche Schriftsteller so etwas wie ein Rückzugs- oder Sehnsuchtsort – und ist sie das vielleicht heute noch?
Roller: Die Assoziationen sind da. In meinem Roman nennt Kästner den Collina d’Oro auch “Zauberhügelein”, da klingt Thomas Mann an. Bertolt Brecht war auch dort, weil seine Geliebte lungenkrank war. Sicher war die Schweiz im 20. Jahrhundert ein Inspirationsort für viele Literaten. Aber ich glaube, dieser Mythos ist verblasst.
KNA: Sie haben sich lange mit Kästner beschäftigt, einem Mann, der seit 50 Jahren tot ist. Lebte er heute noch – was würden Sie ihn gerne fragen?
Roller: Die große, drängende Frage ist die nach seinem Vater. Offiziell gibt es Emil Kästner: der Mann Ida Kästners. Der Sattlermeister, der ihn großgezogen hat. Es gilt allerdings als relativ sicher, dass sein leiblicher Vater eigentlich der Hausarzt war, Sanitätsrat Doktor Emil Zimmermann.
KNA: Der doppelte Emil sozusagen…
Roller: Es gibt aber keine Quelle, in der Kästner eindeutig sagt: Ja, er war es und ja, ich wusste es. Wuchs er mit dem Wissen auf, dass er eigentlich einen ganz anderen Vater hatte, zu dem er im Übrigen Kontakt hielt? Noch pikanter ist die Tatsache, dass der Hausarzt Jude war. Damit wäre Erich Kästner nach der Rassenideologie der Nazis Halbjude gewesen. Er ist aber in der NS-Zeit in Deutschland geblieben. Hätte er Deutschland verlassen, wenn er zu diesem Zeitpunkt um seine Herkunft gewusst hätte? Mit dieser einen Frage nach seinem Vater verbinden sich also zig andere Fragen. Das ist das eine…
KNA: Das andere?
Roller: Ist sein Verhältnis zu Kindern. Wenn man sieht, was Kästner für grandiose Kinderromane geschrieben hat und wenn man dann erfährt, dass er mit Kindern eigentlich gar nicht viel anfangen konnte, im wahren Leben bis hin zu seinem eigenen Sohn, fragt man sich schon, wie das zusammenpasst. Es geht so weit, dass Kästner sogar Lehrer werden wollte, ihm die Kinder aber nach eigener Aussage zu nahe waren, weswegen er wieder auf Distanz ging.
KNA: Das ist in der Tat erstaunlich.
Roller: Was war los mit diesem Mann? Wie konnte er sich so toll einfühlen in die Welt der Kinder? Warum wollte er sie sich gleichzeitig vom Leib halten? Meine These ist: Kästner hat eine Art therapeutisches Schreiben betrieben und sich seine eigene Kindheit neu erschrieben in seinen Kinderromanen. Das ist eigentlich ganz schlau gelöst. Trotzdem glaube ich, dass das auch ein Zeichen von Unglücklichsein war.
KNA: Meinen Sie, dass sich zumindest das Rätsel um Kästners Herkunft eines Tages wird lösen lassen?
Roller: Man könnte seinen Sohn Thomas fragen, der sich allerdings völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat. Aber ich finde, manche Dinge dürfen im Verborgenen bleiben.
KNA: Sie sind Lehrer für Deutsch und Englisch, deswegen die Frage an den Pädagogen: Wie führt man junge Menschen an Kästners Romane heran?
Roller: Das hängt ein bisschen von der Begeisterungsfähigkeit der Lehrkräfte ab. In den Lehrplänen für die Klassen 4 bis 6 taucht Kästner kaum mehr auf, was ich schade finde. Denn das ist ein ideales Alter für die Lektüre seiner Kinderromane. Kästners Lyrik muss unbedingt in die Schule. Als Deutschlehrer lasse ich davon auch nicht ab. Und dann kann man natürlich noch zu den Erwachsenenromanen gehen, allen voran “Fabian”. Ich habe kein Verständnis dafür, dass der nicht in einem Lehrplan steht, jedenfalls in keinem, den ich kenne. Wenn man erfahren will, was am Vorabend der NS-Zeit geschah, kann man kaum etwas Besseres lesen.
KNA: Welcher Kinderroman steht bei Ihnen oben auf der Liste – “Emil und die Detektive”?
Roller: Das ist sicher ein Klassiker. Als Lehrer bin ich allerdings darauf bedacht, dass alle Geschlechter einigermaßen gleichberechtigt vertreten sind. Deswegen muss man eigentlich auf “Pünktchen und Anton” kommen. Aber was die Einfühlsamkeit Kästners angeht, fiele meine Wahl tatsächlich auf “Das doppelte Lottchen”.
KNA: Warum?
Roller: Gerade von Mädchen habe ich wirklich oft gehört: In diesem Roman habe ich mich genau gesehen gefühlt. Das finde ich schon unglaublich, wie ein damals noch junger Mann in der Lage war, sich so in Mädchenseelen einzuführen!
KNA: Achten Sie selbst beim Schreiben auf Geschlechtergerechtigkeit und gendersensible Sprache?
Roller: Bei der Arbeit an “Der Goldhügel” war das für mich überhaupt kein Thema. Der Roman spielt in den 60er-Jahren. Hier eine gendergerechte Sprache einzuführen, dazu noch in einem Stil, der Kästner huldigen sollte, hätte für mich überhaupt nicht gepasst. Aber natürlich ist mir klar, dass ich über einen alten, weißen Mann geschrieben habe. So zumindest würde man ihn heute sehen wollen. Wenn Sprache oder Teile der Handlung eine Leserin oder einen Leser anwidern, ist eigentlich schon ein Erfolg erzielt. Denn dann sieht man auch diese Verstaubtheit der 60er-Jahre. Und Kästner war ein Teil davon.