Absage an totalitäres Denken und Einsatz für Demokratie und Freiheit: Dieser Auftrag ergibt sich für den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) aus der Barmer Theologischen Erklärung, die am 31. Mai 1934 beschlossen wurde. Der Zusammenhalt der freiheitlichen Gesellschaft müsse gepflegt und bewahrt werden und für Rassismus, Hetze und totalitäres Denken dürfe in der Gesellschaft kein Platz sein, sagte der Katholik Wüst dem Evangelischen Pressedienst (epd). Das Verhältnis von Staat und Kirchen hat sich nach Ansicht des Christdemokraten bewährt, beide seien trotz prinzipieller Trennung aufeinander bezogen.
epd: Am 31. Mai jährt sich zum 90. Mal die Veröffentlichung der Barmer Theologischen Erklärung in Wuppertal-Barmen, in der sich evangelische Christen von der Weltanschauung der Nationalsozialisten abgrenzten. Themen von damals wie Rassismus, Hetze und totalitäres Denken sind auch heute aktuell, im rechtsextremen Spektrum wird wieder ein national orientiertes Christentum vertreten. Was lässt sich für die heutigen Krisen aus den Bekenntnissen von Barmen lernen?
Wüst: Eines muss ohne jeden Zweifel feststehen: Für Rassismus, Hetze und totalitäres Denken darf in unserer Gesellschaft kein Platz sein – auch dann nicht, wenn Derartiges unter dem Deckmantel national orientierter Religionsausübung daherkommt. Insofern ist die Barmer Theologische Erklärung heute so aktuell wie vor 90 Jahren. Wer sich auf dieser Grundlage für Mitmenschlichkeit und Toleranz, für den Rechtsstaat und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt stark macht, der macht alles richtig. Das gilt aber auch für alle, die sich aus anderen als religiösen Gründen für unser demokratisches Gemeinwesen einsetzen.
epd: Was können und sollten die christlichen Kirchen zur Stärkung der von manchen Kräften angefeindeten Demokratie beitragen?
Wüst: Es ist eine Errungenschaft des freiheitlichen Miteinanders von Staat und Kirche, dass es nicht darauf ankommt, ob die Existenz einer Religion oder ihre Ausübung für den Staat nützlich ist oder nicht. Es ist ein wichtiges Zeichen, wenn Christinnen und Christen sich vor dem Hintergrund ihrer religiösen Überzeugungen für Demokratie und Freiheit, für Recht und Gerechtigkeit einsetzen. Unsere Demokratie ist eine Staatsform, in der zentrale christliche Werte – insbesondere das Eintreten für die Würde jedes einzelnen Menschen – ihre verbindende Kraft besonders gut entfalten können. Unserer Gesellschaft und unserer Demokratie tut es gut, wenn Christinnen und Christen sich einbringen und das Gemeinwesen stärken.
epd: Ein zentrales Thema der Barmer Erklärung ist das Verhältnis von Kirche und Staat. Heute steht vieles infrage, das lange als selbstverständlich galt, etwa die Staatsleistungen und die Kirchensteuer. Wie sollte das künftige Verhältnis von Kirche und Staat aussehen?
Wüst: Die Barmer Theologische Erklärung gründet auf der prinzipiellen Unterscheidung von Staat und Kirche, wie wir sie seit den Zeiten der Weimarer Verfassung kennen. Beide haben ihr je eigenes Wesen und ihre spezifischen Aufgaben, sind aber nicht streng voneinander abgeschottet, sondern – zum Teil ausdrücklich – aufeinander bezogen. Unsere Verfassung ist religionsfreundlich ausgestaltet und sieht die Kirchen und Religionsgemeinschaften als eine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund widersprechen weder die historisch begründeten Staatsleistungen an die Kirchen noch die Erhebung der Kirchensteuer dem Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche.
Ich teile die Auffassung, dass sich die gewachsene Ordnung des Staatskirchenverhältnisses bewährt hat: Bei aller notwendigen und richtigen Unterscheidung der jeweiligen Sphären sollten wir das gute Miteinander mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften auch in Zukunft pflegen und mit Leben füllen. Ich sehe jedenfalls keine Veranlassung, auf eine grundsätzliche Änderung der rechtlichen Gegebenheiten – für die im Übrigen der Bund zuständig wäre – hinzuwirken.
epd: Eine persönliche Frage: Wie blicken Sie als katholischer Christ auf die evangelische Kirche und das Glaubensbekenntnis von Barmen?
Wüst: Ich bin im katholisch geprägten Münsterland aufgewachsen, für mich ist der Glaube stets Teil meines Alltags gewesen und ist es bis heute. Wir haben gerade in der Familie das Pfingstfest gefeiert – für mich auch ein Zeichen von ökumenischer Verbundenheit der christlichen Konfessionen. Wir sehen aber gerade auch: Beide Kirchen haben Vertrauen verloren – auch und gerade wegen der furchtbaren Missbrauchsfälle und der innerkirchlichen Aufarbeitung. Das schadet uns allen, die Kirchen in Deutschland erfüllen eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt der Bevölkerung. Das sage ich als überzeugter Christ und Christdemokrat.