Historisch gibt es diverse Faktoren, die zur Entstehung Israels geführt haben. Psychologisch sei der Holocaust das bestimmende Element, sagt Avraham Burg (69). Der frühere Knesset-Sprecher hält Vergleiche zwischen dem Terrorangriff der islamistischen Hamas vom 7. Oktober und den Gräueltaten der Nazis für erklärbar, aber dennoch falsch. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Jerusalem erklärt er, was es braucht, um Frieden in den Nahen Osten zu bringen.
KNA: Israels Gründung und der Holocaust werden oft in einem Atemzug genannt.
Burg: Historisch gesehen ist Israel das Ergebnis mehrerer bedeutender Prozesse der vergangenen Jahrhunderte; aber auf psychologischer Ebene wurde Israel für viele Juden und Israelis aus dem Schoß des Holocaust geboren. Das Land sollte die historische Antwort auf Jahrtausende jüdischer Verwundbarkeit sein. Es folgten Jahre des Schweigens. Die Überlebenden versteckten die Nummern auf ihren Armen und bemühten sich ernsthaft, sich zu integrieren. Mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann 1961, den ganz Israel live verfolgte, begannen Überlebende zu erzählen.
KNA: Welche Rolle spielt der Holocaust heute?
Burg: Spätestens der Schock des Jom-Kippur-Kriegs 1973 und Bilder von israelischen Soldaten in Gefangenschaft verbanden den Holocaust-Diskurs untrennbar mit der israelischen Identität. Der Fall des Eisernen Vorhangs öffnete Wege zu den Orten und Erinnerungen an jene Tage. Der damalige Generalstabschef Ehud Barak zog zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz eine Linie “von diesem Tal des Todes bis zu den Höhen der Wiedergeburt Israels in seinem Land”. Seitdem ist der Holocaust das bestimmende Element.
KNA: Was meinen Sie damit?
Burg: Der Holocaust ist das Tor zu Israel, die umhüllende Erzählung und die gesprochene Sprache. Hebräisch ist die offizielle Sprache, der Holocaust ist die Sprache der Seele. Wenn Millionen Juden und Israelis “Nie wieder” geloben, meinen sie in erster Linie, das jüdische Volk mit der Kraft auszustatten, sich zu verteidigen, Feinde abzuschrecken und sein Schicksal zu bestimmen. Israel hat gewaltige Verteidigungsmauern errichtet. Nationale Sicherheit ist heilige Pflicht.
KNA: Und das Gedenken an den Holocaust?
Burg: Es hat sich eine Bewusstseinsindustrie entwickelt, um die inhärente Verbindung zwischen Israel und dem Holocaust zu stärken. Gymnasiasten besuchten Auschwitz auf ihrem Weg zum Militärdienst, um sicherzustellen, dass sie mit der Energie gefüllt sind, die sie bis zu den Feldern der israelischen Kämpfe und der Besatzung trägt. Jeder offizielle Besucher Israels muss Yad Vashem durchlaufen. Er soll wissen, dass wir einen einzigartigen Holocaust in der Geschichte der Menschheit erlebt haben.
Deshalb sind uns Dinge erlaubt, die allen anderen Ländern verboten sind. Holocaust und Antisemitismus wurden zur Waffe in den Händen populistischer Regierungen; zur moralischen Bank, aus der Israel schöpft, um das Unverzeihliche zu rechtfertigen: die Besatzung und Unterdrückung eines ganzen Volkes – der Palästinenser. Wer sich beschwert, wird auf den Holocaust verwiesen; wer kritisiert, ist antisemitisch.
KNA: Auch im Kontext der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober fiel das Wort Holocaust.
Burg: Am 7. Oktober hat der Staat den Eid an die jüdische Geschichte geschworen: Nie wieder! Er hat in seiner zentralen Aufgabe versagt, für die er gegründet wurde. Im Moment der Wahrheit war er nicht da. Das schreckliche Massaker setzte uns der historischen jüdischen Psychologie aus: verletzlich, verfolgt, gehasst, abgeschlachtet, vertrieben (in unserem Land) und schutzlos. Die ständige Präsenz des Holocaust in unserem Leben hat ermöglicht, dass seine Erzählungen und Emotionen sofort die Wahrnehmung des Ereignisses prägten. Wir, die Juden, sind wieder Opfer. Sie, die Hamas, sind die Nazis. Es ist ein zeitgenössischer Holocaust.
KNA: Teilen Sie diese Sicht?
Burg: Bei allen Gräueltaten handelt es sich nicht um einen Holocaust. Barak beklagte, die israelische Armee sei zu spät gekommen, um die Gasöfen zu verhindern. Nein! Millionen Juden starben nicht im Holocaust, weil ihre Armee nicht pünktlich war. Sie wurden abgeschlachtet, weil anderen Menschen – Nazis und ihren Kollaborateuren – Werte fehlten und sie keine Verpflichtung gegenüber menschlichem Leben hatten.
Die damalige Welt war eine von Vernichtungen und Diskriminierungen. Indianerstämme in Nordamerika wurden ermordet, die Herero, Himba und Nama in Namibia, Armenier in der Türkei und Juden in Europa. All diese Verbrechen wurden verursacht durch eine Kombination aus ungebremsten Machtgefühlen, rassischer, religiöser oder nationaler Überlegenheit und einem absoluten Mangel an Einsatz für menschliche Würde und Freiheit. Juden in den USA, Deutschland und Frankreich werden heute nicht durch eine mächtige jüdische Armee geschützt, sondern weil in diesen Staaten Recht und Ordnung herrschen und sie ein tiefes Bekenntnis zur Gleichheit aller Menschen haben.
KNA: Israel nicht?
Burg: Israel wird von Ideologien jüdischer Vorherrschaft beherrscht. Es verweigert Millionen Palästinensern Rechte und Freiheiten und muss sich so immer wieder mit einer ähnlichen Haltung auseinandersetzen, die ihm entgegengebracht wird. Nichts in der Geschichte der Gewalt zwischen Juden und Palästinensern rechtfertigt die schrecklichen Ereignisse des 7. Oktober, und diese Ereignisse können nicht das blinde und wütende Töten von Dutzenden Palästinensern, ihr Aushungern und die Zerstörung ihres Heimatlandes rechtfertigen.
KNA: Wo ist der Ausweg?
Burg: Nur ein tiefgreifender Wertewandel, der den Raum zwischen Jordan und Mittelmeer in einen Raum gleicher ziviler Menschlichkeit für alle verwandelt, wird den Frieden für Völker und Staaten garantieren. Es ist schwer zu glauben, dass dies möglich ist. Aber genau das ist die Herausforderung, vor der Raphael Lemkin stand; jener legendäre Mann, der quasi im Alleingang das Verbrechen des Völkermords in die Gesetzbücher brachte. Was im Europa von damals mit dem realen Holocaust möglich war, ist hier und heute nicht weniger notwendig. Und viel machbarer.