Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind seit 2014 mehr als 28000 Menschen im Mittelmeer ertrunken oder gelten als vermisst. Es ist eine humanitäre Katastrophe, die sich vor den Toren Europas abspielt. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten setzen verstärkt auf Abschottung, Abschreckung, Abschiebung und die Auslagerung von Asylverfahren, um die Migration zu reduzieren. Gleichzeitig werden Menschen und Organisationen, die Flüchtenden humanitäre Hilfe bieten, zunehmend kriminalisiert – ob in Griechenland, auf dem Balkan oder in Italien. Der zivilgesellschaftliche Handlungsspielraum schrumpft. Auch die zivile Seenotrettung, die versucht, Leben zu retten, wird zunehmend behindert, kriminalisiert und diffamiert.
“Rückführungsverbesserungsgesetz” im Bundestag
Erst vergangenen Donnerstag wurde im Bundestag das „Rückführungsverbesserungsgesetz“ diskutiert. Eine darin geplante Neuregelung im Aufenthaltsgesetz sorgt für Aufsehen, da sie uneigennützige Hilfe für Flüchtende an den europäischen Außengrenzen in Deutschland strafbar machen könnte. Davon betroffen wären unter anderem zivile Seenotretter*innen, die zukünftig strafrechtlich verfolgt werden könnten. Sollte eine Staatsanwaltschaft in Zukunft einen Anfangsverdacht sehen, könnten Überwachung, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen bei Seenotrettungsorganisationen drohen.
Zwar betont das Bundesinnenministerium, nicht die Absicht zu haben, die zivile Seenotrettung zu kriminalisieren, doch Jurist*innen sehen ein erhebliches Strafbarkeitsrisiko für Seenotretter*innen. Denn am Ende gilt, was im Gesetz steht, und nicht, was die Regierenden öffentlich erklären. Aus diesem Grund fordern über 50 Organisationen die Bundesregierung auf, die geplanten Änderungen im Aufenthaltsgesetz zurückzuziehen und humanitäre Hilfe zu schützen. Welche Folgen die Kriminalisierung haben kann, sehen wir bereits in anderen europäischen Ländern.
Seenotrettung in Italien fast nicht mehr möglich
Italien hat in den letzten Jahren die Arbeit von Seenotrettungsorganisationen durch öffentliche Diffamierungskampagnen, geschlossene Häfen, erweiterte Hafenstaatkontrollen und Gesetze massiv behindert. Ein neues Gesetz zwingt die Rettungsschiffe seit diesem Jahr, nach jeder Rettung sofort den zugewiesenen Hafen anzulaufen, auch wenn es sich nur um eine gerettete Person handelt.
Gestern Nachmittag rettete unser Team auf der Geo Barents 44 Menschen aus zwei in Seenot geratenen Booten, darunter vier Kinder unter drei Jahren, vier Frauen und mehrere unbegleitete Minderjährige. Es ist die zweite Rettungsaktion gemeinsam mit dem ital. #MRCC. https://t.co/jZ7L8aTBxj
— Ärzte ohne Grenzen (@msf_de) December 1, 2023
Dies hat zur Folge, dass sie andere Schiffe in Seenot nicht retten dürfen, unabhängig davon, ob sie noch über Rettungskapazitäten verfügen oder nicht. Diese Regelung steht in klarem Widerspruch zur Pflicht des Kapitäns, Menschen in Seenot zu retten.
Häfen in SüdItalien nicht mehr anlaufbar
Durch die Praxis der italienischen Behörden, nach Rettungsaktionen weit entfernte Häfen in Norditalien für die Ausschiffung der Überlebenden zuzuweisen, wird das Gesetz noch verschärft. Um Überlebende an Land zu bringen, musste die Geo Barents, das Rettungsschiff von Ärzte ohne Grenzen, im Oktober 1160 Kilometer bis nach Genua in Norditalien zurücklegen. Im Jahr 2023 hätte das Schiff weitere 80 Tage auf See einsparen können, wenn es den nächstgelegenen sicheren Hafen in Sizilien hätte anlaufen können. In dieser Zeit wären die Teams von Ärzte ohne Grenzen in der Lage gewesen, weitere Menschenleben zu retten.
Wie notwendig diese Hilfe ist, zeigt der kürzlich von Ärzte ohne Grenzen veröffentlichte Bericht „No one came to our rescue“ (Niemand kam uns zu Hilfe.) Dieser dokumentiert, wie die Behinderung von Seenotrettung und die bewusste Untätigkeit der europäischen Staaten zu mehr Todesfällen auf See geführt haben. Statt die Abschottungs- und Abschreckungspolitik der letzten Jahre fortzuführen, sollten humanitäre Antworten auf die humanitäre Katastrophe gefunden werden. Lösungen, die mit dem Grundwerten Europas in Einklang stehen.
Statement “Ärzte ohne Grenzen” zum Hintergrund der Gesetzesänderung:
Die Bundesregierung plant das Aufenthaltsgesetz dahingehend zu ändern, dass der Straftatbestand „Einschleusen von Ausländern“ im Paragraph 96 auch das uneigennützige „Schleusen“ in einen anderen EU- oder Schengen-Staat umfasst. „Uneigennützig“ bedeutet hier, dass eine Geldzahlung oder sonstige Gegenleistung für die Hilfeleistung nicht erforderlich ist – es genügt, dass wiederholt oder zugunsten mehrerer Ausländer*innen gehandelt wird. Davon betroffen sind potenziell Seenotretter*innen, aber auch andere humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Geflüchtete selbst.
Felix Braunsdorf ist Experte für Flucht und Migration bei Ärzte ohne Grenzen Deutschland.