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Abschreckendes Beispiel

Der Brexit sei eine Lehre, sagt Elmar Brok. Darum ist dem dienstältesten EU-Parlamentarier um die Zukunft der EU nicht ernstlich bange. Aber klar ist auch: Man muss was dafür tun.

Europa ist sein Leben. Seit 39 Jahren gehört Elmar Brok dem EU-Parlament an. Damit ist er der dienstälteste Abgeordnete. In zahlreichen Funktionen hat sich der CDU-Politiker für die Weiterentwicklung der EU eingesetzt – zum Beispiel als Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten. Für die Europawahl im Mai kandidiert der 72-jährige Katholik aus Ostwestfalen nicht mehr. Über die Perspektiven für die EU in Zeiten wachsenden Nationalismus‘ und über die Rolle der Kirchen innerhalb der EU sprach Elmar Brok in Bielefeld mit Annemarie Heibrock .

Fast 40 Jahre im EU-Parlament, das heißt fast 40 Jahre Mitbauen an der europäischen Einigung. Welches Ereignis hat sie in dieser Zeit am meisten bewegt?
Die Öffnung Europas 1989/90 mitzuerleben – das war schon erhebend. Nicht nur wegen der damit verbundenen Realisierung der deutschen Einheit, sondern auch wegen des dadurch ermöglichten Erweiterungsprozesses der EU. Dass wir mittel- und osteuropäische Staaten gewinnen und die europäische Teilung mit rechtsstaatlichen und demokratischen Mitteln und in Freiheit überwinden konnten, bewegt mich bis heute.
Eine äußerst erfreuliche Entwicklung war in dieser Zeit auch der Demokratisierungsprozess der EU selbst, an dem ich als Verhandler des Parlaments mitwirken konnte. Das hat glücklicherweise dazu geführt, dass wir heute eine EU haben, in der das Parlament gleichberechtigter Partner ist.
Und immer wieder neu bewegend ist natürlich die Parlaments-tätigkeit selbst: Wo gibt es das sonst, dass Menschen aus unterschiedlichen Staaten, Kulturen und politischen Traditionen Freundschaften schließen und  gemeinsam nach dem besten politischen Weg suchen?

Und was hat Sie als EU-Parlamentarier am meisten enttäuscht?
Es ist eine bittere Erkenntnis, dass wir heute Diskussionen darüber führen müssen, was Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bedeuten, dass wir wieder Nationalismus haben und dass manche so reden, als wären wir in einer Zwischenkriegszeit. Die Systemfrage stellen zu müssen – das, so dachte ich, sei seit dem Zusammenbruch des Kommunismus sowohl nach rechts wie nach links erledigt. Ist es aber offensichtlich nicht.

Auch in der Bevölkerung hat die Strahlkraft des ehemals so bezeichneten „grandiosen Friedensprojekts“ Europa verloren. Wie kann man der Idee neues Leben einhauchen?
Zum Beispiel, indem wir die Fakten nennen und die Wahrheit sagen in allen politischen Fragen. Und wir müssen erklären, welchen Nutzen Europa für alle Bürgerinnen und Bürger hat. Leider gibt europäische Hauptstädte, in denen man vorgibt, man hätte mit europäischen Beschlüssen nichts zu tun. Politische Erfolge schreibt man sich dann auf die eigene Fahne, und für Misserfolge macht man Brüssel verantwortlich. So jedenfalls kann man die Menschen nicht für Europa gewinnen.

Und wie gewinnt man sie für den Gang zur Wahl im Mai?
Auf jeden Fall nicht, indem wir nur auf die Argumente der Rechten reagieren. Wir, die demokratischen Parteien, müssen dagegenhalten, indem wir unsere eigenen pro-europäischen Konzepte darstellen. Und wir müssen immer wieder deutlich machen, dass die Teilnahme an den Wahlen eine Grundsatzentscheidung für das Friedens- und Freiheitskonzept Europa ist. Dabei ist es fast gleichgültig, welche Partei aus dem demokratischen Spektrum man wählt. Im Übrigen glaube ich, dass der Fall Großbritannien in Sachen Urnengang für viele Menschen eine Lehre ist: Wenn nämlich all die jungen Menschen dort, die für den Verbleib waren, am Referendum teilgenommen hätten, hätte es keinen Brexit gegeben.

Anderes Thema: Kirchen und Konfessionen in Europa: Welches ist ihre Rolle? Tragen Sie bei zum Zusammenwachsen oder doch eher zur Spaltung – etwa zwischen Ost und West?
Wir müssen sehen, dass die europäischen Kirchen sehr unterschiedlich strukturiert sind. Das hat mit ihrer Geschichte zu tun. Ursprünglich hatte die katholische Kirche einen anderen Zugang zur europäischen Einigung als die evangelischen Kirchen. Denn mit ihrer Orientierung auf Rom war die katholische Kirche immer national und europäisch. Deshalb kamen die stärkeren Impulse für Europa auch von ihr. Auf protestantischer Seite hat man sich eher über das Friedenskonzept dem Thema Europa angenähert und damit mittlerweile eine hohe Übereinstimmung erzielt. Die größten Probleme gibt es in den Ländern mit orthodoxen Kirchen. Wir müssen ja sehen: Europa beruht auf vier Säulen: der christlich-jüdischen Tradition, der griechischen Philosophie, dem römischen Rechts- und Ordnungssystem und der Aufklärung. Von der letzteren hat man in den orthodoxen Kirchen am wenigsten mitbekommen. Eine Folge ist die mangelnde Bereitschaft, sich zu öffnen, und das wirkt sich negativ auf den Demokratisierungsprozess in diesen Ländern und auf ihren Blick auf Europa aus.  

In dem von Ihnen mitinitiierten Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU ist ein regelmäßiger Austausch der Union mit den Religionsgemeinschaften vorgesehen. Gibt es diesen Austausch?
Das Besondere ist zunächst, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine solche Zusage überhaupt haben. Und ja: Der Dialog findet statt, aber ich finde, er müsste intensiver und stringenter geführt werden. Das sollten die Kirchen von der EU-Kommission einfordern. Denn die Grundidee dieses Artikels war, dass es auch Konsultationspflichten gibt, etwa wenn es um konkrete Gesetzgebung geht. Es reicht nicht aus, wenn man sich ein- oder zweimal im Jahr zum netten Gedankenaustausch trifft. Außerdem wünschte ich mir von den Kirchen, dass sie ihre Kritik prononcierter äußern. Häufig ist nämlich nur von „der Politik“ die Rede. Wenn sie mit einer Entscheidung nicht einverstanden sind, sollten sie Ross und Reiter benennen. Denn wenn man aber mit seiner Kritik alle in einen Pott wirft, dann sind natürlich auch die verärgert, die handeln, wie die Kirchen es möchten.

Kirchen in Deutschland haben einen geschützten Status, etwa im Arbeitsrecht. Dieser Status steht durch EU-Recht immer mehr auf dem Prüfstand. Werden sich die Kirchen in Deutschland auf weitere Einschränkungen gefasst machen müssen?
Im Arbeitsrecht möglicherweise ja, aber sicher nur begrenzt. Denn der eben schon zitierte Artikel 17 sagt ja auch, dass die EU den Status achtet, „den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen“. Von daher greift europäische Gesetzgebung in diesem Bereich nicht unmittelbar. Das Staat-Kirchen-Verhältnis in der Union folgt nationalen Traditionen.
 
Noch einmal zurück zu Ihnen: Sie haben sich in all den Jahren mit viel Herzblut für Europa stark gemacht. Wie ist Ihnen vor dem Hintergrund der aktuellen Spaltungen und nationalistischen Strömungen im Blick auf die Zukunft der EU zumute?
Ehrlich gesagt, mache ich mir da keine allzu großen Sorgen. Der Brexit hat dazu geführt, dass sich die Zustimmung zu Europa erhöht hat. Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben dadurch verstanden, was passiert, wenn man einen solchen Schritt tut. Wenn wir mit Vernunft weiterarbeiten und so dazu beitragen, dass die Populisten nicht die Oberhand gewinnen, werden wir die Sache wohl im Griff behalten. Andererseits: Nichts ist ewig auf dieser Erde. Alles muss immer wieder neu erkämpft werden.

Brauchen wir denn dafür mehr Europa, wie der französische Präsident Macron meint, oder weniger? Oder ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Mehr Europa und ein stärkeres Europa brauchen wir für die Probleme, die der Nationalstaat allein nicht bewältigen kann: zum Beispiel beim Klimawandel, bei Fragen der Migration, der Bekämpfung des Terrorismus oder beim Umgang mit den Konsequenzen von Globalisierung und Digitalisierung.
Was nicht sein darf, ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Denn das würde zu einer noch stärkeren Trennung zwischen Ost und West führen. Richtig ist ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, wie wir es ja schon jetzt haben, etwa beim Schengener Abkommen oder beim Euro. Aber alle müssen das Recht haben mitzumachen, wenn sie können und wollen.

Wenn Sie weiterdenken: Wo steht die EU in zehn Jahren?
Ich glaube, dass sie gestärkt aus der Krise hervorgeht.
 
Und wo sehen Sie sich selbst in den nächsten Jahren? Das Pendeln zwischen Brüssel und Westfalen wird ja bald vorbei sein.
Ich werde sicher öfter zuhause sein als in den letzten 39 Jahren und nicht mehr morgens um acht in der ersten und abends um acht in der letzten Arbeitsgruppe sitzen. Ich werde meiner Frau ein Stückchen näher sein, aber nicht sieben Tage in der Woche auf dem Sofa sitzen. Europa wird bestimmt weiterhin eine Rolle spielen. Auf welcher Weise aber, das lasse ich mal auf mich zukommen.