Benoît Marchal kennt die heilsame Kraft des Waldes aus eigener Erfahrung. Nach einem Schlaganfall änderte er sein Leben – heute hilft er anderen, im Wald Ruhe zu finden.
Das Laub auf dem Waldboden raschelt, Vogelgezwitscher ist aus den Bäumen zu hören. Benoît Marchal ist mit einer kleinen Gruppe für einen Schnupperkurs “Waldbaden” im Dünnwalder Wald in Köln unterwegs. Die Sonne strahlt, es ist ein warmer Frühjahrstag. Der 63-Jährige ist seit einigen Jahren zertifizierter Waldgesundheitstrainer. “Die Menschen sollen merken, dass man den Wald ganz anders erleben kann. Sie sollen in einen Zustand der tiefen Naturverbundenheit kommen und dabei von ihrem Alltag und Stress abschalten”, sagt Marchal. Helfen sollen dabei verschiedene Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen.
Die Waldbaden-Teilnehmer laufen beispielsweise ganz langsam und bewusst in ausholenden Schritten durch ein Stück des Waldes. Auch ermutigt sie Marchal, sich sitzend etwa ein Stück Holz in Reichweite zu suchen und ganz genau zu betrachten, zu fühlen, in der Hand zu wiegen, zu riechen und zu schmecken. Mit geschlossenen Augen sollen sich die sieben Waldbadenden den Gegenstand noch einmal vergegenwärtigen. Wie sah der Ast genau aus, fühlte sich die Hülse der Buchecker wirklich so stachelig an? Mit offenen Augen erfühlen die Teilnehmer ihre Naturschätze dann noch einmal neu: Was hat sich geändert, wie unterscheidet sich die Erinnerung von der Realität?
Waldbaden kommt aus Japan, dort heißt es “Shinrin Yoku”. In Deutschland hat sich das bewusste Eintauchen in den Wald ab etwa 2017 als Trend entwickelt, berichtet Jasmin Schlimm-Thierjung, Geschäftsführerin der Akademie für Waldbaden und Gesundheit mit Sitz in Rheinland-Pfalz. “Inzwischen hat es sich etabliert und ist zu einem Stressbewältigungs- und Entspannungsinstrument geworden”, sagt sie. Die Akademie hat eigenen Angaben zufolge einen großen Marktanteil und seit ihrer Gründung 2018 mehr als 5.000 Kursleiter ausgebildet. “Darunter sind Hausfrauen genauso wie Konzernmanager, Pflegekräfte genauso wie Rentner”, sagt Schlimm-Thierjung. Sie alle eine, dass sie auf der Suche nach Regeneration seien; manche hätten ein Burnout hinter sich.
Marchal wuchs in der Nähe der Vogesen auf, einem Mittelgebirge im Osten Frankreichs. Sein Berufswunsch war Förster, doch es verschlug ihn als jungen Mann nach Deutschland, wo er Sprachlehrer wurde. Noch heute arbeitet er als solcher für die Deutsche Bahn, allerdings im reduzierten Umfang. Seine Arbeit forderte ihm viel ab, berichtet er: viele Arbeitsstunden, Druck und Stress. Das halte ein Mensch zwar aus, aber er bezahle dafür – und zwar meist mit der eigenen Gesundheit. Marchal erlitt einen Schlaganfall und entschied, etwas an seinem Leben zu ändern. So ließ er sich zum Waldgesundheitstrainer ausbilden, zertifiziert vom Kneippärztebund e.V. und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für ihn die richtige Entscheidung: “Sobald ich im Wald bin, fühle ich mich so wohl.”
Die positive Wirkung des Waldbadens ist durch medizinische Studien belegt, erklärt Anika Gaggermeier, die sich bei der Bayerischen Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft mit der gesundheitlichen Wirkung des Waldes auf den Menschen befasst. “Es hat positive Effekte auf das psychische Wohlbefinden”, sagt die Forstwissenschaftlerin. Depressionen und Angstzustände könnten demnach abgemildert, das Stresslevel gesenkt werden. Forschungsbedarf gebe es hingegen noch bei physiologischen Effekten, etwa auf den Blutdruck oder das Immunsystem. Die Studienlage dazu sei noch nicht eindeutig.
Laut Gaggermeier wirken beim Waldbaden viele verschiedene Faktoren auf den Menschen. Zum einen seien das persönliche Erfahrungen, etwa aus der Kindheit, zum anderen könne auch ein gesellschaftlich verankertes Bild vom Wald als Sehnsuchtsort wirken. “Und der Wald unterscheidet sich erheblich von anderen Naturräumen, zum Beispiel einer Wiese”, betont sie. Es gebe etwa ein eigenes Waldinnenklima, eine andere Hitze-Kälte-Verteilung, Windgeschwindigkeit und Luftfeuchtigkeit. Der Duft des Waldes ist zudem ein eigener. “Bäume stoßen Terpene aus, das sind flüchtige organische Verbindungen. Es gibt Hinweise darauf, dass sie gesundheitliche Effekte haben.”
Auch Marchal ist überzeugt, dass das Waldbaden die Regenerationskräfte von Menschen stärkt. “Leute, die frisch aus dem Wald kommen, haben ein niedrigeres Level an Stresshormonen”, sagt er. Die Teilnehmer des Kurses, sechs Frauen und ein Mann, fühlen sich nach drei Stunden Waldbaden jedenfalls “tiefenentspannt”, wie sie sagen. Marchal verspricht ihnen, sie würden in der folgenden Nacht so gut wie lange nicht schlafen. “Wenn ihr jetzt nicht noch in die Schildergasse geht”, mahnt er – die Schildergasse ist die Einkaufsmeile in Köln.