Artikel teilen:

Zurück in eine ungewisse Zukunft

Das ökumenische Hilfswerk EHO kümmert sich um Flüchtlinge in der zweitgrößten Stadt Novi Sad

Hunderttausende Roma haben nach den Jugoslawien-Kriegen in den 1990er Jahren kein Zuhause mehr. Viele Flüchtlinge und Rückkehrer aus Westeuropa kommen heute in der Provinz Vojvodina unter. Allerdings leben sie auch in Serbien am Rande der Gesellschaft.
Veliki Rit ist die größte Roma-Siedlung am Stadtrand von Novi Sad. Etwa 2500 Menschen leben hier in illegal errichteten, einfachen Steinhäusern mit Wellblechdächern und Holzöfen. Wege und Straßen sind aus Lehm angelegt. Im Herbst und Winter löst er sich in Schlamm auf. Rund 80 Prozent der Bewohner hier sind Flüchtlinge aus dem Kosovo.
Nemzat Gasi ist einer von ihnen. Als Roma in Pristina geboren, floh er mit seiner Frau und den Kindern 1999 vor den Kriegswirren im Kosovo. Ihr Haus war 1999 in Brand gesteckt worden. Von Sarajevo floh die Familie weiter nach Novi Sad und fand Unterschlupf in der illegalen Siedlung Veliki Rit. Doch Nemzat Gasi hatte keine Arbeit und keine Lebensperspektive, weshalb er Asyl in Deutschland suchte. Von 2013 bis 2016 lebte die Familie in Baden-Württemberg. Die Kinder gingen zur Schule und lernten Deutsch. Doch das Asylverfahren war aussichtslos. Im Rahmen des Rückübernahmeabkommens kam die siebenköpfige Familie zurück nach Novi Sad – ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne eine Meldeadresse und ohne ausreichende Dokumente.  
Stanka Jankovic, selbst Roma und Mitarbeiterin des ökumenischen Hilfswerkes EHO in Novi Sad, kennt viele solche Fälle. Denn die meisten aus Deutschland abgeschobenen Familien finden keine Arbeit – es sind nur etwa ein Prozent der Roma in Serbien, die Arbeit hat. Die Sozialarbeiterin unterstützt auch den 41-jährigen Nemzat Gasi bei Behördengängen und bei der Anmeldung der Kinder in der Schule. Die Familie ist nur eine von vielen, die in den drei illegalen Siedlungen am Stadtrand von Novi Sad wohnt. Hier ist ihre neue Heimat, aber der Weg zur vollen Integration ist mühsam und mit Steinen gepflastert. Vielleicht haben seine Kinder eine Chance.
Die Vojvodina ist heute eine Art Auffangbecken für unzählige Flüchtlinge. Die autonome Provinz innerhalb des jungen demokratischen Staates Serbien ist seit März 2012 mit ihren rund 7,1 Millionen Einwohnern ein EU-Beitrittskandidat. Doch Serbien ist arm und die Probleme des Staates sind zahlreich: Korruption, geringes Wirtschaftswachstum, große Armut insbesondere in den südlichen Landesteilen. Dazu heftige Spannungen zwischen den Serben und anderen ethnischen Gruppen – insbesondere mit den Albanern und Roma – kennzeichnen den gesellschaftlichen Alltag. Hinzu kommt das bis heute nicht aufgearbeitete Erbe der Bürgerkriege aus den frühen 1990er Jahren.
Ist die Vojvodina da eine Ausnahme? Die nördlichste Provinz Serbiens war schon immer etwas Besonderes. Die fruchtbare pannonische Tiefebene machte sie zur Kornkammer Serbiens. Zugleich ist sie der multiethnische Teil, denn hier leben nicht nur Serben, sondern auch Bevölkerungsgruppen aus Ungarn, der Slowakei, Deutschstämmige und viele Roma.
Novi Sad ist mit etwa 500 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt in Serbien. Hier an der Grenze zu Ungarn, Rumänien und Kroatien lassen sich auch immer wieder zahlreiche Roma-Familien nieder, die nach unglücklichen Wanderungs- und Asylgesuchen aus den nördlichen Ländern der EU nach Serbien abgeschoben werden.
In den 1990er Jahren flohen viele Menschen vor den Verfolgungen und der Bürgerkriegssituation im Kosovo. Heute hat sich die politische Lage im Kosovo auch dank massiver EU-Hilfe beruhigt. Dorthin wollen sie aber nicht zurück. Immer noch leidet der Kosovo unter einer hohen Arbeitslosigkeit, unsicheren politischen Verhältnissen und Spannungen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Die Voj­vodina und ihre Provinzhauptstadt Novi Sad sind so zur neuen Heimat von Tausenden Roma-Familien geworden.
Serbien möchte in die Europäische Union. Doch der Mitgliedschaft geht ein langes Aufnahmeverfahren voraus. Im Zuge des Beitrittsprozesses stellt die EU Bedingungen. Seit 2009 regelt ein bilaterales Abkommen die „Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt“. Im Klartext heißt das: Serbien verpflichtete sich, Roma mit abgelehnten Asylverfahren aus Deutschland, Schweden und den Niederlanden wieder aufzunehmen.
Im Gegenzug erhielt der serbische Staat finanzielle „Wiedereingliederungshilfen“. Von politischen Entscheidungen und bürokratischen Regelungen bis hin zu einer humanen Wiedereingliederung der Roma-Minderheit in die serbische Gesellschaft ist aber ein weiter Weg zurückzulegen.
Hierbei spielt das ökumenische Hilfswerk eine wichtige Rolle. Seit vielen Jahren kümmert es sich um Minderheiten und benachteiligte Bevölkerungsgruppen. Eine ambulante Altenpflege, sozialdiakonische Betreuung für benachteiligte Menschen und ein Beratungszentrum für Roma hat das EHO in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgebaut. Das EHO ist eine ökumenische Einrichtung, getragen von den verschiedenen protestantischen Minderheitskirchen in der Vojvodina – Hoffnungszeichen in einer Gesellschaft mit vielen sozialen Problemen.

Thomas Krieger ist Europareferent im Amt für MÖWe der westfälischen Kirche in Dortmund. Im Herbst besuchte er das EHO in Novi Sad.