Zupacken, auspacken, aufhängen – bei Christa Bergmann sitzt jeder Handgriff in der Kleiderkammer St. Johanner Börse in Saarbrücken. Wer sie anspricht, bekommt eine ruhige, freundliche Antwort. „Der Kunde ist hier König“, sagt sie und meint, was sie sagt. Christa Bergmanns Kunden sind Menschen, die auf der Straße leben. Die selten Respekt und Freundlichkeit erfahren – und eben das deshalb umso nötiger haben.
Wie sich das anfühlt, arrogant ignoriert oder wüst beschimpft zu werden, nicht dazuzugehören, kein Zuhause, keinen Job und kein Geld zu haben, das kennt die 50-jährige Mitarbeiterin der Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Zentrums Saarbrücken nur zu gut. Sie hat selbst „Platte“ gemacht. „Das Leben auf der Straße ist purer Stress“, erinnert sie sich. Im Haus der Diakonie, mitten in der Stadt, gegenüber der Johanneskirche, sollen ihre Kunden Wertschätzung erleben, zur Ruhe kommen, neue Hoffnung schöpfen.
Überall fehlt es an preiswertem Wohnraum
„Viele haben sich aufgegeben, so wie ich damals auch“, meint Christa Bergmann. Die langen Jahre der Alkoholsucht, der Entzüge und Rückfälle, der Monate auf der Straße spiegeln sich in ihrem Gesicht. Sie haben sie verletzlich gemacht, aber auch mitfühlend für jene, die aus allen sozialen Netzen gefallen und auf der Straße gelandet sind.
Im vergangenen Jahr haben knapp 830 Frauen und Männer die Hilfe der Wohnungslosenarbeit im Haus der Diakonie in Anspruch genommen. Die meisten sind zwischen 40 und 49 Jahre alt, 69 Prozent sind männlich.
Ob in Berlin, Bochum, Bielefeld oder Saarbrücken – Obdachlosigkeit gibt es in allen deutschen Großstädten. Der Wohnungsmarkt ist vielerorts angespannt. Überall ist günstiger Wohnraum rar. Auch im eher ländlich geprägten Saarbrücken, wo der Quadratmeterpreis deutlich niedriger ist als etwa in Köln oder Düsseldorf, fehlen preiswerte Wohnungen, die etwa durch Sozialämter an Menschen vergeben werden können, die auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Chance haben.
Doch die Ursachen der Obdachlosigkeit sind nicht allein darauf zurückzuführen. „Ich begegne hier vielen Menschen, die mindestens ein Suchtproblem haben und psychisch krank sind“, erzählt Ulla Frank, die seit 28 Jahren für die Diakonie Saar arbeitet und seit 2002 in der Wohnungslosenhilfe tätig ist. „Sie haben Angst vor den Ansprüchen der Nachbarn, wenn sie tatsächlich eine Wohnung mieten können.“
Offene Sprechstunde dreimal in der Woche
Regelmäßig die Treppe putzen, die Musik leise drehen, sich im Hausflur auf einen Smalltalk einlassen – nach einem Leben auf der Straße ist all das fremd. Ulla Frank berichtet von Klienten, die deshalb zögerten, den Mietvertrag für eine Wohnung zu unterschreiben, die sie ihnen mit viel Mühe vermittelt hatte. Dabei zeigen Studien, dass Obdachlose, die eine eigene Wohnung bekommen und im Alltag unterstützt werden, relativ schnell wieder auf eigenen Füßen stehen.
„Ich musste erst lernen, die Zurückhaltung mancher Klienten zu verstehen und zu akzeptieren“, gibt die gelernte Erzieherin zu. „Aber wir gehen neben ihnen, nicht vor ihnen.“ Oft dauert es lange, bis wohnungslose Frauen und Männer Vertrauen zu den Mitarbeitenden aufbauen, bis sie bereit sind, ihre Sucht oder psychische Erkrankung behandeln zu lassen, bis sie in der Lage sind, eigenständig Anträge bei Sozialämtern, Renten- und Krankenkassen zu stellen, sich eine Wohnung und letztlich auch einen Job zu suchen. „Wir können nur unsere Hilfe anbieten, aber niemanden dazu drängen“, sagt Ulla Frank.
Regelmäßig geht sie mit ihrem Kollegen Thomas Braun an die Plätze, wo die Menschen in Saarbrücken „Platte“ machen und informiert sie über das vielfältige Angebot der Wohnungslosenarbeit.
In der Kleiderkammer St. Johanner Börse erhalten alle Bedürftigen einmal im Monat für drei Euro saubere Kleidung und Schuhe. Elf ehrenamtlich tätige Ärzte bieten in zwei Behandlungsräumen des Diakonischen Zentrums Sprechstunden für all jene an, die keine Krankenversicherung haben oder den Gang in eine normale Arztpraxis scheuen. Dreimal in der Woche gibt es eine Offene Sprechstunde, in der Ulla Frank und ihre Kollegen Obdachlose beraten, ihnen beim Ausfüllen von Anträgen für Behörden oder bei der Wohnungssuche helfen.
Um wohnungslosen Menschen möglichst schnell zu einem eigenen Zuhause zu verhelfen, hat die Diakonie Saar im Juni ein dreijähriges Modellprojekt unter dem Titel „Housing first – Wohnen zuerst“ gestartet. Dabei sollen zehn wohnungslose Männer und Frauen eine eigene Wohnung mit eigenem Mietvertrag erhalten, unbefristet und ohne Bedingungen.
Im Rahmen des Projekts seien gerade die ersten zwei Wohnungslosen mit einer privaten Vermieterin zusammengebracht worden, erzählt Ulla Frank.
Es ist ein wichtiges Projekt, denn je länger Menschen auf der Straße leben, so die Erfahrung der Diakonieexpertin, umso gefährlicher wird es für die meisten. „Nur wenige erreichen ein Alter von 60 Jahren.“ Mangelnde Körperhygiene, Infektionen, die nie richtig auskuriert werden, keine Ruhe und Entspannung.
Angst vor Gewalt ist ein ständiger Begleiter
„Das Leben eines Obdachlosen ist immer öffentlich.“ Jederzeit können Papiere, Geld und persönliche Gegenstände gestohlen werden. Viele Obdachlose erleben gewaltsame Übergriffe von Rechtsextremen, aber auch von anderen Wohnungslosen. Es gibt kaum Solidarität, jeder muss für sich selbst sorgen.
„Um all das zu ertragen, war ich immer besoffen“, erzählt Christa Bergmann. „Doch irgendwann habe ich kapiert, dass ich auf der Straße sterbe, wenn ich so weitermache und bin zur Diakonie gekommen.“ Ulla Frank kann einige solcher Erfolgsgeschichten erzählen.
Doch es gibt auch die anderen Geschichten, die mit dem Tod enden. „Manchmal ist diese Arbeit schwer auszuhalten“, sagt sie und holt einen kleinen Leuchtturm hervor, den ihr ein Klient gebastelt hat. Er ist vor einigen Jahren auf der Straße gestorben. „Er wusste, dass ich Leuchttürme liebe“, sagt sie. „Sie sind ein Zeichen der Hoffnung. Und die habe ich trotz allem für jeden Menschen, dem ich hier begegne.“