Artikel teilen:

Zu Fuß nach Jerusalem

5523 Kilometer, mindestens sechs durchlaufene Paar Schuhe: Stefan Spangenberg hat eine Pilgerreise der Superlative geschafft. In neun Monaten durchwanderte er neun Länder und erreichte am Ende Jerusalem. Er pilgerte auch für seinen kranken Sohn.

Der Tiefpunkt kommt Anfang Februar, als er es schon fast geschafft hat. Es ist Nacht. Stefan Spangenberg liegt am Flughafen Ben-Gurion nahe Tel Aviv auf einer Bank im Wartebereich. Nicht etwa, weil es der Tag seines Heimflugs wäre, sondern weil er kein anderes Nachtquartier gefunden hat. Mit seinem Monowalker, dem Wandergepäckwagen neben sich, fällt er auf. Dauernd kommt misstrauisches Wachpersonal vorbei. An Schlaf ist nicht zu denken. ‚Wozu dieser ganze Stress?‘, fragt sich der Pilger müde.

In den beiden Nächten zuvor musste er vor Tankstellen zelten. Tagsüber waren die Wege schlecht. Vielleicht, grübelt Spangenberg, sollte er für die letzten Kilometer doch einen Bus nach Jerusalem nehmen? Doch am frühen Morgen packt ihn der Ehrgeiz wieder. Busfahren kommt nicht in Frage. Zwei Tage später hat er es geschafft. „Willkommen in Jerusalem!“, ruft ihm eine Passantin fröhlich zu. An diesem Tag endet eine ungewöhnliche Reise, die im Frühling 2018 begonnen hatte. „Ich glaube, so richtig kann ich es noch gar nicht fassen, dass ich an meinem Pilgerziel angekommen bin“, schreibt der 60-Jährige in seinem Blog – einer Art Tagebuch im Internet (www.firstcs.de/blog).

Wie es zu der Pilgerreise kam? Eine gute Frage. Denn reisen und pilgern war nicht vorgesehen in der Welt, in die er 1958 hineingeboren wurde. Erfurt, damals DDR. Als Spangenberg drei Jahre alt war, zog man um seine Welt herum eine Mauer. Er wuchs in einem christlichen Elternhaus auf, wurde Lehrer, heiratete. Lebte nicht schlecht in dem Land, aus dem er nicht hätte fortgehen können. „Der Vogel weiß erst, dass er gefangen war, wenn er aus dem Käfig kommt“, sagt er heute. Dann kam der Mauerfall. Freiheit.

Es verschlug ihn nach Mainz. Dort schulte er um und arbeitete im IT-Bereich. Inzwischen ist er in Altersteilzeit. Seit einigen Jahren lebt er in Ingelheim, konvertierte 2013 zum katholischen Glauben. Die Gründe? „Die Rituale haben mich angesprochen und mit dem katholischen Pfarrer Tobias Schäfer habe ich mich super verstanden“, sagt Spangenberg. Im selben Jahr besuchte er mit einer Gruppe seiner Pfarrei Israel – und war fasziniert. ‚Ich werde eines Tages zu Fuß hierher pilgern‘, beschloss er. Die nötige Kondition hatte er: Jahrelang lief er Marathon, sogar Ultra-Marathons über 74 Kilometer. Gepilgert war er auch schon, einige Jahre zuvor auf dem Jakobsweg. Pfarrer Tobias Schäfer unterstützte ihn: „Wenn du das wirklich machst, dann werde ich am Damaskustor in Jerusalem stehen, wenn du ankommst, und dich begrüßen.“ Noch war die Reise nicht mehr als eine fixe Idee.

Ende 2013, ein Schock: Sohn Martin erkrankt mit 32 Jahren an Multipler Sklerose. „Viel Unterstützung“, habe er durch die Deutsche Multiple-Sklerose Gesellschaft, (DMSG), erfahren, sagt Stefan Spangenberg. Martin lernte von den Mitarbeitern, trotz Krankheit den Alltag zu meistern. Aus Dankbarkeit pilgert Stefan Spangenberg darum nicht nur für sich und seinen Glauben. Die Reise ist auch mit einem Spendenaufruf für die DMSG verbunden.

Anfang Mai 2018 geht es los: Mit 29 Kilogramm Gepäck im Monowalker startet Spangenberg seine Pilgertour, etwa 35 Kilometer pro Tag. Monatelang hat er die Route ausgetüftelt. Wo Meere oder politische Unwägbarkeiten wie in Syrien sein Fortkommen hindern, will er Schiffe und Flieger nutzen.

Zwei Wochen später ist Stefan Spangenberg in Frankreich. „Schöne Landschaften, nette Menschen und zum Glück keine Pannen“, resümiert er gut gelaunt am Telefon. Das Gepäck hat er nochmal reduziert und Überflüssiges per Paket heimgeschickt. Trotz guter Schuhe plagten ihn einige Tage lang Blasen an den Füßen. Wenn man ihm das damals, zu DDR-Zeiten, gesagt hätte: ‚Du nimmst eines Tages einfach den Monowalker und wanderst einfach los!‘ – „das hätte ich nie geglaubt!“, sagt er.

Der Pilgerstempel vom 21. Juli erinnert an seine Ankunft in Rom. In Italien bekommt Spangenberg Besuch von seiner Lebensgefährtin Iris, die vier Wochen der Route bis Florenz mit ihm pilgert. Per Fähre setzt er nach Albanien über, weiter geht es nach Mazedonien. Im Oktober: Griechenland; per Fähre geht es nach Zypern, dann zu Fuß in die Türkei. Dort feiert der Pilger Anfang November seinen 60. Geburtstag, später das Weihnachtsfest in der deutschsprachigen Gemeinde in Antalya.

Inzwischen ist er längst wieder in seinem „alten“ Leben angekommen. Alles ist gutgegangen. Es hat sich gelohnt, nach dem Durchhänger kurz vor Jerusalem weiter zu laufen. Tatsächlich dort anzukommen und all die Orte der Bibel zu besuchen, das war ein Erlebnis. „Die Passionszeit, Karfreitag, Ostern – das erlebe ich in diesem Jahr viel intensiver. Mir sind all die Orte noch so deutlich vor Augen“, schwärmt Stefan Spangenberg.Ein herausragendes Erlebniss war auch das Treffen mit Tobias Schäfer, seinem früheren Pfarrer, am Damaskustor. „Da habe ich mich schon sehr geehrt gefühlt, dass er gekommen ist. Er ist extra hingeflogen.“

Ein Gefühl, das Stefan Spangenberg mit dem Ende der Pilgerreise gern hinter sich gelassen hat: „Morgens nicht wissen, wo ich abends übernachten werde.“ Bis Italien gebe es eine „gute Pilger-Infrastruktur“. Danach wurde nicht nur die Suche nach Unterkünften, sondern auch der Weg selbst oft zur Herausforderung – wie er es in Israel besonders drastisch erleben musste.

Sicher fühlte er sich dennoch in jedem Moment seiner Reise: „Ich bin nicht beklaut worden, habe überall offene und hilfsbereite Menschen getroffen.“ Etwa das israeli-sche Pärchen, das er im Juni am Großen Sankt Bernhard in der Schweiz kennenlernte und das ihn im Februar einige Tage in seinem Kibbuz in Jerusalem beherbergte. Nur zweimal musste er am Monowalker einen Platten flicken. Das Gefährt war ansonsten überall ein Hingucker. „Viele Passanten wollten ein Selfie damit machen“, berichtet Spangenberg.

Jetzt freut er sich auf die Ostertage. „Ostern ist schließlich die Grundlage meines Glaubens“, sagt er. Zusätzlich freut er sich auf das Ende der Fastenzeit und „ein gepflegtes Gläschen Wein“.