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Zeitzeugin: Verstehe nicht, dass sich Religionen bekämpfen

Ruth Winkelmann (96) überlebte die Novemberpogrome und die NS-Zeit in Berlin. Bis heute geht sie in Schulen und spricht über ihre Erlebnisse – das sei ihre Aufgabe, weil sie überlebt habe, sagt sie.

Ruth Winkelmann, 96 Jahre alte Berliner Zeitzeugin der Novemberpogrome von 1938, wünscht sich ein friedliches Miteinander aller Religionen. “Wir haben alle nur einen Gott. Der ist immer für mich da. Dass zwei Religionen sich bekämpfen, kann ich nicht verstehen”, sagte sie der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Berlin.

Aus Sicherheitsgründen trage sie ihre Kette mit einem Davidstern auf der Straße nicht mehr offen: “Ich will nicht, dass man ihn mir vom Hals reißt. Ich habe das einmal in der S-Bahn erlebt, dass einem türkischen Mädchen ihre Halbmond-Kette vom Hals gerissen wurde. Die Leute waren damals wie erstarrt, keiner hat etwas unternommen.”

Auswanderung sei für sie nach dem Krieg trotz aller Schrecken nie infrage gekommen. “Das ist mein Deutschland. Das lasse ich mir von keinem wegnehmen. Meine jüdische Familie war so preußisch, wie man sich nur vorstellen kann. Für meine Großmutter war völlig klar, erst kommt der Staat, dann die Stadt, dann die Familie und dann man selbst.”

Winkelmann wurde 1928 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter geboren. Mit zehn Jahren geriet sie als Schülerin der Jüdischen Mädchenschule in Berlin in die Novemberpogrome; das Gebäude in der Auguststraße wurde von der SS verbarrikadiert, Kinder und Lehrer waren eingesperrt. Winkelmann konnte nur knapp fliehen. Als beinahe einzige ihrer Familie überlebte sie Rassenwahn und Krieg.

Erst seit den 2000er Jahren besucht sie Schulen und spricht über ihre Erlebnisse. Dies sei ihr sehr lange sehr schwer gefallen, berichtet sie. “Bei meiner ersten Veranstaltung habe ich fast nur geweint. Irgendwann habe ich dann ein Buch über meine Erlebnisse geschrieben. Ich begreife das als meine Aufgabe: Es ist das, was ich dem Leben wiedergeben möchte, weil ich überlebt habe.”