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Wohin steuert Israel?

In Israel sind die Proteste gegen die Regierung wiederaufgeflammt. Die Angst vor einem antidemokratischen Staatsumbau treibt Tausende auf die Straßen. Im Visier der Regierung: Geheimdienstchef und Generalstaatsanwältin.

Es sind nicht hunderttausende Demonstranten wie vor dem Krieg, aber erneut ist Israel in Aufruhr. Die Ankündigung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Inlandsgeheimdienstchef Ronen Bar zu feuern, hat die Proteste im Land neu entfacht. Die Menschen fürchten, dass die Regierung wichtige demokratische Institutionen aushebeln könnte – quasi ein Staatsstreich der Regierung gegen das demokratische Fundament des Landes. Der Krieg im Gazastreifen und die Sorge um die verbliebenen Geiseln schüren die Wut.

Der Ton ist hart, die Sprache vergiftet. Dass der wegen des Waffenstillstandsabkommens zwischen Hamas und Israel kurzfristig aus der Koalition ausgetretene Rechtsextreme Itamar Ben-Gvir mit seiner “Jüdischen Stärke” nach dem israelischen Bruch der Waffenruhe wieder in der Regierung sitzt, hat nicht zur Entspannung geführt. Eine seiner ersten Forderungen nach seiner Rückkehr war, Ronen Bar als “Anführer einer geheimen Organisation”, die sich gegen den Staat verschworen habe, “in Einzelhaft” zu stecken.

Ins Horn der Verschwörungstheorien bläst auch Netanjahu selbst. “Wenn in Amerika und Israel ein starker rechtsgerichteter Politiker eine Wahl gewinnt, setzt der linke Schattenstaat das Justizsystem als Waffe ein, um den Willen des Volkes zu untergraben”, schrieb er auf “X”. Ein weiterer Versuch eines Mannes, der wegen Korruption vor Gericht steht, die Institutionen zu delegitimieren, die seiner Macht gefährlich werden könnten.

Offiziell nannte Netanjahu mangelndes Vertrauen als Grund für die Entlassung Bars, der der Regierung als zu kritisch gilt. Seine Entscheidung fällt jedoch in eine Zeit, in der der Schin Bet eine Ermittlung gegen Mitarbeiter aus Netanjahus Büro eingeleitet hat. Der Verdacht: illegale Beziehungen zu Katar, einem der Hauptfinanziers der Hamas und Vermittler in Sachen Geiseln, Weitergabe geheimer Dokumente, Gefährdung der nationalen Sicherheit.

Einen Zusammenhang zwischen der Entlassung Bars und den Ermittlungen wies Netanjahu zurück. Vielmehr sei sein Entscheid gefallen, nachdem die Behörde ihren Bericht zum Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 veröffentlicht habe.

Gegen Bars Entlassung liegt eine einstweilige Verfügung des Obersten Gerichts vor, wenngleich es dem Regierungschef das Recht einräumt, Gespräche mit potenziellen Nachfolgern zu führen. Äußerungen einzelner Minister, darunter des rechtsradikalen Finanzministers Bezalel Smotrich (Religiöser Zionismus) oder Netanjahus Parteigenossen, Kommunikationsminister Schlomo Karhi, lassen Beobachter fürchten, dass die Regierung sich über das Gericht hinwegsetzen und das Land vollends in eine Verfassungskrise stürzen könnte. Oppositionsführer Jair Lapid (Jesch Atid) drohte vorsorglich mit Generalstreik.

Abgesehen hat es die Regierung auch auf Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara. Ein Misstrauensvotum gegen die Juristin war ein erster Schritt in Richtung ihrer Entlassung – auch das Anlass für viele Israelis, auf die Straße zu gehen. Für Justizminister Jariv Levin agiert die Generalstaatsanwältin als “verlängerter Arm der regierungskritischen Demonstranten”, denen er “Gewalt gegen Polizisten und unschuldige Zivilisten” vorwarf. Angesichts zahlreicher Szenen von Polizeigewalt gegen meist friedliche Demonstranten eine überraschende Interpretation.

Allgemein wird erwartet, dass das Oberste Gericht einer solchen Absetzung widersprechen wird. Unklar bleibt, wie sich die Regierung künftig gegenüber Gerichtsbeschlüssen verhält.

In Göteborg veröffentlicht das Forschungsinstitut “V-Dem” (Varieties of Democracy) jedes Jahr einen Demokratieindex. 2023 fiel Israel erstmals in mehr als 50 Jahren aus der Gruppe der demokratischen Idealform “liberale Demokratie” in die Kategorie “Wahldemokratie”, in der es auch 2024 verharrte. Stufe drei wäre die Wahlautokratie, in der Wahlen nur noch rein formell stattfinden. Stimmen auf der Straße, darunter Angehörige von getöteten Geiseln, sprechen schon heute von einer “messianischen Diktatur”.

Mangelndes Vertrauen, das Regierungsargument gegen Bar und Baharav-Miara, herrscht in Teilen der israelischen Zivilgesellschaft schon lange im Blick auf die Regierung. Während einige vor einem drohenden Bürgerkrieg in der gespaltenen Gesellschaft warnen, hoffen andere auf Wahlen, die planmäßig im Oktober 2026 stattfinden. “Da Israel eine Art demokratischen Instinkt hat, wird es keinen Staatsstreich geben. Wenn es einen Wandel gibt, wird er von den Wahlurnen kommen”, sagte etwa der frühere Parlamentssprecher Avraham Burg jüngst in einem Interview der französischen Zeitung “La Croix”.

Bis dahin, schreibt der Tel Aviver Schriftsteller Assaf Gavron in einem Gastbeitrag der “FAZ”, müssten die demokratischen Institutionen Israels bestmöglich geschützt werden – “schwierig, aber möglich”.