Mein Körper ist hart, die Schultern schmerzen, die Kiefer pressen aufeinander, drücken auf die Zähne. Ich habe massive körperliche Beschwerden. Von meiner Seele, meinen Beziehungen und meiner Familie ganz zu schweigen. Ich habe eine Posttraumatische Belastungsstörung. Mehr als zwei Jahre war ich nicht fähig zu arbeiten. Ich wollte sterben und habe einen Suizidversuch unternommen.
Als ich 15 Jahre jung war, wurde ich von dem Pfarrer meines Heimatdorfs missbraucht. Das war kein Ausrutscher, vielmehr rutschte ich in einen 16 Jahre währenden Kreislauf aus körperlicher und sexualisierter Gewalt und seelischer, emotionaler Abhängigkeit. Heute stehe ich hier, bin verheiratet, habe Kinder und einen Beruf, der mich erfüllt und den ich ausfüllen kann. Ich habe das, was vielen Betroffenen verwehrt bleibt. Viele schaffen es nicht.
Was für eine Floskel!
Auch deshalb ist es mir wichtig, meine Stimme zu erheben. Ich arbeite im Betroffenenbeirat der EKD mit. Kirche sagt, sie will die Stimme der Betroffenen sexualisierter Gewalt in der Kirche hören – was für eine Floskel! In Wahrheit sind die Betroffenen in einer Bittsteller-Position. Sie sind es, die zur Kirche kommen müssen, die ihre Geschichte erzählen müssen, die Anträge stellen und Leistungen einklagen müssen.
Mir zeigt diese Komm-Struktur, dass sich die Kirche nicht im Klaren darüber ist, was sie wirklich will. Weil sie sich nicht klar darüber werden will. Denn das bedeutet Schmerz. Sexualisierte Gewalt kratzt am inneren Kern der Kirche: Wir sind doch die Guten! Und das ist natürlich völlig konträr zu dem, was Betroffene erlebt und erlitten haben. Jeder und jede Einzelne spricht für seinen und ihren konkreten Fall, aber wie ein Puzzle fügt sich Stück für Stück zum Gesamtbild zusammen. Da geht es nicht um Einzelfälle, sondern um den strukturellen und rituellen Kontext von Gewalt. Den will die Kirche nicht wahrhaben. Und dann kommt es zu solchen Äußerungen mancher Geistlicher, dass ja alle Menschen Sünder seien, und zu Scheindebatten, ob man nicht auch Tätern vergeben müsse. Aber sexualisierte Gewalt lässt sich nicht mit der Beichte lösen. Die Folgen tragen Betroffene ein Leben lang.
Weniger Christus, mehr Schöpfungstheologie
Ich habe mir durch einen Wechsel der Landeskirche zumindest einen Schutzraum erobert. Trotz allem bin ich in der evangelischen Kirche geblieben, habe sogar Theologie studiert. Glaube ist vielfältig. Glaube gibt mir die Gelegenheit, mein Lamento loszuwerden. Ich lese Hiob und fühle mich verstanden. Da ist einer, der mir Worte gibt für das, was unsagbar ist. Aber tatsächlich ist in meinem Kopf ein Filter. Ich klopfe viele Gebete und Lieder ab und frage mich: Kann ich das mitsingen, kann ich das mittragen? Meine Erfahrung hat meinen Glauben auf den Kopf gestellt. Die Opfertheologie habe ich über Bord geworfen, stattdessen sehe und erfahre ich Gott in seinen vielfältigen Erscheinungen, zum Beispiel in der Natur. Mein Glaube ist weniger Glaube an Christus und mehr Schöpfungstheologie.
Kirche muss dem Schmerz standhalten
Viele Menschen mit Missbrauchserfahrungen tragen diese Ambivalenz in sich. Einige haben sich zusammengeschlossen: auf der Website gottessuche.de zum Beispiel; unter dem Stichwort „trotz allem“ werden Gottesdienste gefeiert. Die Erfahrungen einen, aber stempeln uns auch ab. Die armen Opfer! Dabei wollen wir Betroffenen nicht bemitleidet und bedauert werden. Schluss mit diesen öffentlichen Ritualen! Ich will in meiner Stärke, in meiner Kompetenz wahrgenommen werden. Auf Augenhöhe.
Kirche muss diesem Schmerz standhalten und nach sachorientierten Lösungen suchen. Das war bislang im Betroffenenbeirat nicht der Fall. Wir Mitglieder wollen Klarheit über unsere Aufgaben und Kompetenzen. Wir plädieren für externe, verpflichtende und regelmäßige Schulungen in den Gemeinden, im Predigerseminar und während des Vikariats und in Einrichtungen vor Ort, auch für die Ehrenamtlichen. Wir fordern die Etablierung einer Beauftragtenstelle auch in den Kirchenkreisen – so wie es Beauftragte für Gleichstellung oder Brandschutz gibt.
Mit Gewaltschutzkonzepten allein ist es nicht getan, denn sie schützen vor allem eines: die Kirche als Institution. Es wird gerade das gemacht, was der Gesetzgeber verlangt, aber Einsicht, wie innere Strukturen geändert werden müssen, wie mit Tätern konsequent umzugehen ist, gibt es nicht. Auch in einem Disziplinarverfahren geht es im Kern ja nur um die Frage, ob der Täter mit seinem Verhalten der Kirche als Institution geschadet habe. Die Betroffenen werden zu Zeugen degradiert und erhielten bis dato nicht mal einen Zeugenschutz.
Dabei muss die Kirche dringend Fragen beantworten: Wo sind die strukturellen Ursachen? Wo sind die dunklen Flecken? Wo verbergen wir lieber als zu zeigen? Wo verdrängen und verleumden wir? Das nagt an den Grundfesten. Denn Kirche will und tut ja so viel Gutes.
Dieses Selbstverständnis verstellt oft den Blick, dass es sich bei sexualisierter Gewalt nicht um ein Phänomen der Vergangenheit handelt.
So etwas passiert auch heute. Wie geht die Kirche mit den Tätern um, wie wirkt sie der großen internen Vergesslichkeit entgegen, warum nützt die große Vernetzung von kirchlichen und subkirchlichen Strukturen den Tätern? Und wie kommt es, dass Betroffene, wenn sie anfangen zu reden, plötzlich zu Tätern werden, die das Ansehen des Pfarrers in den Dreck ziehen, die gute Arbeit zunichtemachen und die Gemeinde zerreißen? Wir brauchen eine Beteiligung der Betroffenen, wenn es um die Präventionsmaßnahmen und Ordnungen zu Gewaltschutzkonzepten geht. Auf Augenhöhe!