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“Wir brauchen Lieder, die es bis unter die Dusche schaffen”

Als US-amerikanische Soldaten die ersten Gospels und Spirituals nach Deutschland brachten, entwickelte sich auch hierzulande eine kleine, aber feine Szene mit christlich gefärbter Popmusik. Sie fand auf Kirchentagen und in Jugendgruppen eine Heimat und hat in den Kirchen inzwischen ganze Generationen geprägt. Auch die evangelische Regionalbischöfin Petra Bahr aus Hannover ist mit dieser Musik aufgewachsen. An diesem Wochenende (16. bis 18. August) gehört sie zu den Referentinnen beim „Popkonvent ’24“ der hannoverschen Landeskirche. Die frühere Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) plädiert für eine hohe Qualität und eine gute Ausbildung – und warnt vor religiösem Kitsch.

epd: Frau Bahr, lassen Sie in Ihren Gottesdiensten auch mal das Lied „Danke, für diesen guten Morgen“ singen?

Bahr: Inzwischen eher selten. Das habe ich in meiner Kindheit viel gesungen. Mittlerweile ist das Repertoire solcher Lieder ja so groß, dass es ganze Liederbücher dafür gibt. Diese Lieder dürfen nicht nur im Gottesdienst vorkommen, sie sollen vorkommen. Ich mache auch Gottesdienste mit Bands oder mit A-cappella-Ensembles, die überhaupt keine klassischen Sachen machen.

epd: Das „Danke“-Lied hat vor mehr als 60 Jahren einen ganzen Boom an neuen geistlichen Liedern ausgelöst. Was halten Sie generell von christlichen Popsongs?

Bahr: Ich halte viel davon, weil man ja sagen muss: Die evangelische Kirchenmusik im Gottesdienst hat als Popmusik begonnen. Wenn man etwa die frühen Luther-Lieder nimmt, dann werden ja dort ganz oft Melodien verwendet, die zuerst in Kneipen oder auf der Straße gesungen und dann mit neuen geistlichen Texten versehen wurden. Denn man wusste schon relativ früh: Was Menschen singen können, was ihnen zu Herzen geht und was sie vielleicht auch bei der Arbeit singen, ist etwas, das ganz andere Schichten des eigenen Lebens berührt als eine intellektuelle Ansprache.

epd: Luther als kleiner Popstar?

Bahr: Luther hat die populäre Musik seiner Zeit aufgegriffen. Pop heißt ja erstmal nur: Das ist das, was Leute im Alltag viel hören. Das waren vor der Zeit der elektronischen Musikverbreitung Lieder, die man selber sang und spielte, Liebeslieder, Balladen, Trauersongs. Heute gibt es von Schlagern bis zu Techno eine ganze Bandbreite dessen, was man populäre Musik nennen würde.

epd: Biedert sich die Kirche nicht an den Zeitgeist an, wenn sie mit Gitarre und Schlagzeug kommt?

Bahr: Alle Instrumente im Gottesdienst, Orgel oder E-Piano, Cello oder Synthesizer oder Blechbläser haben eine gemeinsame Aufgabe: das Singen leichter zu machen, die Gemeinde zu stützen – und durch die Musik einen anderen, weiteren Horizont zu eröffnen, der über Worte hinausragt. Entscheidend ist die Frage: Gelingt das? Verbündet sich die Musik mit der Liturgie? Kann sie die, die im Gottesdienst zusammen sind, emotional wie körperlich bewegen? Das geht gut oder schlecht.

epd: Sind christliche Popsongs oder Gospels aus Ihrer Sicht besonderes geeignet, Menschen in der Kirche emotional zu berühren?

Bahr: Im Guten ja, im Schlechten nein. Es gibt großartige populäre geistliche Musik, Lieder mit tollen Texten, Melodien und Arrangements. Dann gibt es die, die ein halbes Jahr eine Rolle spielen und dann nie wieder gesungen werden, weil sie nicht tragen, weil sie musikalisch oder textlich schwach sind. Bei englischen Texten fällt das nicht so schnell auf, bei deutscher Lyrik eher. Die ganze Fülle der menschlichen Existenz und christlichen Glaubenserfahrung widerzuspiegeln, ist und war eine Herausforderung. Bis in die Libretti von Bach-Kantaten hinein gibt irritierend schlechte Texte, manchmal mit grandioser Musik.

epd: Manche Leute wenden ein, durch neue geistliche Lieder würden Theologie und Kirche banalisiert. Wie sehen Sie das?

Bahr: Das hängt an der Güte der Texte und der Tiefe der musikalischen Gestaltung. Leider gibt es manchmal die Versuchung, die Texte nicht so wichtig zu finden – oder eine bestimmte Form religiöser Rührseligkeit anzusprechen. Dazu kommt, dass wir im Alltag wahnsinnig viel englischsprachige Popmusik hören und deswegen nicht gewohnt sind, auf die Texte zu achten, die in Teilen übrigens großartig sind.

Wenn eine Gemeinde mitsingen will, braucht sie Texte, die zum einen eingängig und zum anderen bedeutsam für sie und ihre Lebenswelt sind. Sie sollten nicht bei einer Feld-Wald-Wiesen-Liebe-Rhetorik stehen bleiben, sondern in der Lage sein, existenzielle und religiöse Fragen zu berühren: Liebe und Not, Scheitern, Sehnsucht nach Vergebung und Erlösung. Musik ist im Gottesdienst eine eigene Dimension der Gottesbeziehung und der Gemeinschaftserfahrung. Sie ist nicht nur Dekoration oder Ablenkung, damit man den Rest erträgt. Sie hat eine eigene theologische Würde.

epd: Was halten Sie davon, wenn bei kirchlichen Feiern weltliche Popsongs gesungen oder gespielt werden. Also bei der Beerdigung etwa „Time To Say Goodbye“?

Bahr: Es gibt oft einen geistlichen Bezug – den zu den Verstorbenen und den Songs ihres Lebens. So lassen sich auch vermeintlich säkulare Lieder oft im theologischen Horizont deuten. Und wenn das gelingen kann, bin ich die Erste, die das gut findet. Diese Trennung von weltlich und geistlich ist ja ohnehin künstlich. Wenn man sich die Texte mancher Lieder aus den Charts anhört, stellt man fest: Wow, das ist eigentlich ein ziemlich religiöser Text.

epd: Brauchen wir aus Ihrer Sicht mehr neue kirchliche Popsongs?

Bahr: Wir brauchen gute kirchliche Popsongs und die grundsätzliche Akzeptanz von Kirchenleitungen und Gemeinden, dass jede Zeit ihre eigenen Popularmusik hat. Dazu muss das gemeinsame Singen als Aneignung des Glaubens aufmerksam gefördert werden, am besten schon in der frühen Kindheit. Gemeinden sind kein Konzertpublikum. Anspruchsvoll ist auch die Ausdifferenzierung der musikalischen Stile und Geschmäcker. Es gibt nicht mehr „die“ Popmusik. Die einen lieben Singer-Songwriter oder Kirchenschlager, die anderen Gospel, die dritten hätten am liebsten einen Gottesdienstraum, der auch mal bei Technoklängen bebt.

Meine Sorge ist manchmal, dass das, was wir mit christlicher Popmusik verbinden, in einem Einheitssound endet. Dagegen hilft gute Ausbildung, Förderung von musikalischen Experimenten, auch des Crossovers zwischen alter und neuer Musik, manchmal der Mut zum ganz Einfachem. Es braucht Lieder, die es bis unter die Dusche schaffen, aber eben auch Songs, die ihre große Kraft in der Stille entwickeln. Das geht auf Dauer nur mit sehr guter Ausbildung auf allen Ebenen. Hier geht unsere Landeskirche schon gut voran.