Frau Landesbischöfin, die Entwicklung der Mitgliederzahlen 2022 in den Kirchen liegt vor. Was gibt es zu berichten?
Kristina Kühnbaum-Schmidt: Nach allem, was wir bisher sehen können, hat der von der Freiburger Studie vorausgesagte Mitgliederschwund im vergangenen Jahr noch einmal an Geschwindigkeit zugenommen. Das zwingt auch bisher volkskirchlich aufgestellte Landeskirchen, sich mit der Situation von Kirche in der Minderheitssituation auseinanderzusetzen. Denn die großen christlichen Kirchen in Deutschland sind unter den 50-Prozent-Anteil der Bevölkerung gerutscht.
Auch in der der Nordkirche haben die Austritte zugenommen; darauf haben bereits verschiedene Medienberichte in den vergangenen Monaten hingewiesen. 2022 sind wir rund 66 000 Menschen weniger geworden, dabei sind die Austrittszahlen deutlich angestiegen. Die genauen Zahlen legen wir Anfang März vor.
Gibt es erste Überlegungen, woran das liegt?
In den vergangenen Jahren waren es zwei Gruppen, die besonders hohe Austrittsquoten aufweisen: Das eine sind junge Leute zwischen 20 und 30 Jahren beim Eintritt ins Berufsleben, der auch mit der Erstveranlagung zur Kirchensteuer verbunden ist. Die zweite Gruppe sind Frauen zwischen 40 und 50 Jahren. Auch hier scheint ein Faktor die Kirchensteuer zu sein, die nach der Familienphase beim Wiedereintritt ins Erwerbsleben erhoben wird. Auch die im Jahr 2022 deutlich gestiegenen Preise bei den Lebenshaltungskosten spielen wohl auch eine Rolle.
Also geht es doch wieder vor allem ums Geld? Gerade hieß es doch in einer Studie, dass es an einer allgemeinen Entfremdung von der Kirche liegt…
Die Kirchensteuer gibt wohl dann den Ausschlag, wenn eine Entfremdung bereits stattgefunden hat. Wenn die Frage nach dem, was einem Kirchenmitgliedschaft bedeutet, so beantwortet wird, dass sie keinen verbindlichen finanziellen Beitrag zu rechtfertigen scheint. Wir müssen erst einmal nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die Hälfte der Bevölkerung sich den großen christlichen Kirchen nicht mehr so verbunden fühlt, um in der geltenden Form der Kirchenmitgliedschaft zu uns gehören zu wollen.
Es scheint die Tendenz zu geben, dass viele Menschen kirchliche Veranstaltungen ereignisbezogen wahrnehmen , wie zum Beispiel an Weihnachten oder auch bei traurigen Anlässen wie bei Gottesdiensten nach Katastrophen – zugleich sinkt die Bereitschaft für eine mit der verbindlichen Zahlung von Kirchensteuern verbundene lebenslange Mitgliedschaft. Gleichzeitig erleben wir sehr viele Wünsche nach persönlicher Begleitung durch Seelsorge und nach individuell und persönlich zugewandt gestalteten Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Bestattungen.
“Gravierende Veränderungen”
Dabei besteht die Herausforderung für kleiner werdende Kirchen darin, ob sie weiter bereit sein werden, sozusagen volkskirchlich-großzügig zu teilen, was im Glauben an Hoffnung und Segensschätzen geschenkt ist. Oder ob sie die geringer werdenden Ressourcen ausschließlich für die eigenen Mitglieder einsetzen wollen. Wahrscheinlich müssen wir alle miteinander noch besser verstehen, wie gravierend die Veränderungen sind, in denen wir uns befinden.
Nun sinken zwar bisher die Kirchenmitgliederzahlen, aber die Kirchensteuereinnahmen sind sogar leicht gestiegen. Es gibt sie also weiterhin, diese Hochverbundenen, die treu die kirchliche Arbeit finanzieren. Wie lässt sich Mitgliederpflege mit der Öffnung in die Gesellschaft hinein in Einklang bringen?
Zunächst einmal danke ich allen, die unsere Botschaft und unsere Arbeit hochverbunden und verlässlich unterstützen – durch ehrenamtliches Engagement, finanziell und ideell. Und dann: Mitgliederpflege und Öffnung müssen ja keine Gegensätze sein. Auf der Veddel, einem Hamburger multikulturellen Stadtteil, gibt es zum Beispiel kaum Infrastruktur. Wenn die dortige Immanuel-Gemeinde sagt: Wir wollen Teil der Gemeinschaft hier sein, wir wollen das, was wir haben an Räumen, an geistlichen und materiellen Gaben, einbringen zum Nutzen aller, kommt das ja auch den hochverbundenen Gemeindegliedern zugute. Solche Sozialraumorientierung braucht eine Haltungsänderung im Selbstverständnis – sozusagen vom Spielführer zur Mitspielerin mit anderen zusammen, als kooperierende Kirche.
Ich habe gerade erlebt, wie es die kleine lutherische Kirche in Polen schafft, von der Ökumene und der Gesellschaft wahrgenommen zu werden – mit einem starken diakonischen Profil der Gemeinden. Dieses Da-Sein für alle, ohne Grenzen von Konfession und Mitgliedschaft, gibt der Kirche dort eine hohe Ausstrahlungskraft und Gestaltungsmöglichkeiten im Zusammenleben.
Was heißt das für Gemeinden, die in der Fläche immer größer werden und in denen alles auf den Schultern von einem kleinen Kern liegt?
Ich möchte Mut machen: Probiert aus, was geht und was nicht geht. Tauscht euch aus mit anderen, die auch etwas ausprobieren. Etliche Projekte, die heute gut laufen, begannen damit, dass ein, zwei eine gute Idee hatten und andere dafür gewinnen konnten mitzumachen.
Und haltet Durststrecken aus in der Hoffnung, dass sich der Hunger nach dem Evangelium auch wieder einstellen kann. Kirchenchroniken dokumentieren immer wieder solche Durststrecken, in denen es darauf ankam, in einem kleinen Kreis von Engagierten die Gemeinde, das Evangelium hindurchzutragen – bis dann wieder etwas Neues entstand. Stärkt euch gegenseitig über Gemeindegrenzen hinweg. Und geht auf Menschen zu in einer gewissen Absichtslosigkeit, mit einer seelsorgerlichen Grundhaltung, die sich an den Menschen orientiert und nicht gleich darauf abzielt, neue Kirchenmitglieder zu gewinnen.
Aber letztlich wird der angebliche Erfolg oder Misserfolg doch an den Mitgliederzahlen einer Gemeinde festgemacht…
Das ist etwas, was wir gerade in dieser Situation zwischen dem Interesse an etlichen unserer Angebote einerseits und sinkenden Mitgliederzahlen andererseits bedenken müssen. Wenn wir uns an dem orientieren, was wir in Sozialräume einbringen können, dann brauchen wir dafür auch Hauptamtliche. Vielleicht müssen wir schauen, ob der Stellenschlüssel weiterhin vor allem an den Mitgliederzahlen einer Gemeinde festgemacht werden soll. Das wäre aber ein echter Paradigmenwechsel.
Trotzdem bleibt ja die Frage, wie das alles finanziert werden soll, wenn die Mitgliederzahlen immer weiter und irgendwann ja sicherlich auch die Kirchensteuern zurückgehen werden…
Die Kirchensteuer erleichtert unsere Funktionstätigkeit als Kirche, weil sie im Gegensatz zu Spenden verlässlich planbar ist. Auch darum warnen einige davor, sie grundsätzlich abzuschaffen. Sie wird dem zu Beginn unseres Gespräches skizzierten Gegensatz von hohen Ansprüchen bei gleichzeitig sinkender Bereitschaft, über längere Zeit oder gar lebenslang als Mitglied diese Arbeit mitzutragen, aber allein wohl auch nicht mehr gerecht.
Wir brauchen ergänzende Formen von Finanzierung. Deshalb diskutieren manche, dass ereignisbezogene und weithin einmalige Inanspruchnahme kirchlicher Dienste für Nichtmitglieder etwas kosten könnte. Im Gegenzug wird auch überlegt, Menschen, die keine Kirchenmitglieder sind, sich aber beispielsweise aktiv im Chor oder Kirchbauförderverein engagieren, auch ein Recht für Mitbestimmung und Partizipation zuzuerkennen. Das alles sollten wir im weiter laufenden Zukunftsprozess diskutieren.