Artikel teilen:

Wie eine Afghanin in Deutschland die Taliban austrickst

Die afghanischen Taliban tun alles, um Frauen vom Lernen abzuhalten. Das nehmen nicht alle hin. Aus Deutschland heraus leistet eine Frau Widerstand – und organisiert den Unterricht von rund 1.500 afghanischen Mädchen.

“Wir haben Deine Nummer, und wir wissen, wer Du bist.” Als Ava zu später Uhrzeit auf der Couch in ihrem Wohnzimmer sitzt, erscheint plötzlich diese Schock-Nachricht auf ihrem Smartphone. Die gebürtige Afghanin lebt seit Dezember 2015 in Deutschland. Wo genau und wie Ava richtig heißt, will sie lieber nicht öffentlich preisgeben. Denn sie hat ein Projekt begonnen, mit dem sie den Machthabern in ihrem Heimatland gehörig in die Suppe spuckt.

Von wem die Drohung stammt, weiß sie nicht; nur, dass der Verfasser in Afghanistan sitzt. Und der stört sich daran, wie Ava aus dem Exil heraus gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung afghanischer Frauen ankämpft: ganz friedlich und doch mächtig, mit Online-Unterricht für Teenagerinnen.

Vor einigen Jahren hat Ava begonnen, eine digitale Schule aufzubauen. Regelmäßig klappt sie ihren Laptop auf und blickt auf Chat-Kacheln. Dahinter stecken eine Reihe der inzwischen etwa 1.500 Schülerinnen, die sie gemeinsam mit rund zwei Dutzend anderen Lehrerinnen aus Deutschland, England und Afghanistan unterrichtet. Kostenlos und ehrenamtlich.

Ihr Geld verdient die Mutter von drei Kindern als Sekretärin. Wie eine normale Schule bieten auch sie und ihre Kolleginnen mehrere Fächer an: unter anderem Mathematik, Fremdsprachen und Religion. Ava hat Vorkehrungen getroffen, um sich vor den Taliban und ihren Anhängern zu schützen – zumal Verwandte und einige der Lehrerinnen in Afghanistan leben. Ihre Handynummer hält sie geheim; die Drohung erreichte sie über die Sozialen Medien, in denen sie anonym für ihre Schule wirbt.

Seit der Machtübernahme in Kabul 2021 schließen die Islamisten systematisch Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben aus. So erließ das “Tugendministerium” die Anordnung, dass Frauen ihren Körper und ihr Gesicht vor allen Männern verhüllen, mit denen sie nicht verwandt sind. Auch ist ihnen verboten, in der Öffentlichkeit zu singen oder laut zu sprechen. Zudem wird Bildung massiv beschränkt: Einen Unterricht dürfen afghanische Mädchen nur bis zur 6. Klasse besuchen.

Dagegen lehnt sich Ava mit ihrer Online-Schule auf. Um die beteiligten Lehrerinnen und auch die Schülerinnen in Afghanistan vor den Taliban zu schützen, hat Ava weitere Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. “Vor Aufnahme einer neuen Schülerin prüfen wir genau, ob auch wirklich die Person dahintersteckt, die sie vorgibt zu sein.” Dazu müssen Bewerberinnen ein Formular ausfüllen, in dem Alter und Name angegeben werden. Anschließend laden die jungen Frauen ihren Personalausweis hoch.

Im letzten Schritt führt Ava ein Online-Videogespräch mit der Bewerberin, um wirklich sicher zu sein, dass sich kein Taliban-Unterstützer einschleust. Für den Unterricht verabreden sich Lehrerinnen und Schülerinnen in Online-Kanälen, in die sich die Mädchen mit einem Pseudonym einloggen. Sie verzichten wie die Lehrerinnen auf Profilbilder; die Kamera bleibt im Unterricht aus.

“Alle Lehrerinnen arbeiten ohne Bezahlung”, berichtet Ava. Das zwinge manche der Kolleginnen, ihr Engagement auf ein bis zwei Jahre zu begrenzen. Gerade für die Frauen aus Afghanistan sei es nicht einfach, weil sie nur sehr wenig Geld haben. Trotzdem brennen sie für das Projekt.

“Die Nachfrage nach dem Unterricht ist ungebremst”, sagt Ava. Inzwischen erhält ihre Schule auch Anfragen von Teenagerinnen, die aus Afghanistan in den Iran geflohen sind. “Sie können sich nicht vorstellen, wieviel Motivation die afghanischen Mädchen mitbringen.” Viele verbinden die Schule mit der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf eine Arbeit in den wenigen Berufen, die Frauen in Afghanistan noch nicht verwehrt sind, etwa als Krankenschwester.

“Da erlebe ich einen sehr starken Kontrast zu Deutschland”, sagt Ava. Was für viele Schüler hier selbstverständlich sei, fehle in Afghanistan an allen Ecken und Enden. Besondere Momente ihres Ehrenamtes seien, wenn sich Eltern der afghanischen Schüler bei ihr bedanken. “Ich bin sprachlos, wenn sie mir sagen, dass sie alles für mich tun, wenn ich nach Afghanistan komme.” Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr auch das Video eines Mädchens, das ihr stolz ein Goethe-Deutschzertifikat in die Kamera hielt.

Die Nachricht des Taliban, der Ava bedrohte, hat ihr zwar Angst eingejagt. “Aber ich habe mich nicht einschüchtern lassen, habe geantwortet und zurückgeschrieben”, erzählt sie. “Ich mache weiter – egal, ob du meine Nummer hast oder nicht.”