Kurschus-Rücktritt, Haushaltsloch und Wiederwahl des obersten Juristen: Die am Samstag in Bielefeld zu Ende gegangene Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen hat den knapp 200 Mitgliedern der Kirchenparlaments intensive Arbeit und lebhafte Debatten beschert. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) blickt der Theologische Vizepräsident Ulf Schlüter, der die westfälische Kirche nach dem Rücktritt von Präses Annette Kurschus kommissarisch leitet, auf die Ereignisse der letzten Tage und Wochen – und auf die Herausforderungen der viertgrößten Landeskirche in Deutschland.
epd: Wenige Tage nach dem Rücktritt von Annette Kurschus als westfälische Präses und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat am Freitag und Samstag die westfälische Landessynode getagt – erstmals unter Ihrem Vorsitz. Wie ist die Synode mit dem Rücktritt umgegangen und wie war die Stimmung?
Ulf Schlüter: Wir haben zu Beginn der Synode in einer geschlossenen Sitzung Gelegenheit gegeben, sich erst einmal zu sortieren und auszutauschen. Die Kirchenleitung hat darüber informiert, was wir mit Blick auf den mutmaßlichen Missbrauchsfall im Kirchenkreis Siegen gesichert wissen. Wir haben dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es keine abschließende Bewertung der Vorgänge in Siegen geben kann. Am Ende der Sitzung haben wir eine gemeinsame Erklärung verabschiedet, die Berichte der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt und unsere Erschütterung über diese Vorgänge ausdrückt.
Wichtig war uns, die Betroffenen im Namen der Synode um Verzeihung zu bitten. Das ist die Perspektive, die wir in der Betrachtung von sexualisierter Gewalt immer einnehmen müssen. Wir müssen alles tun, dass unter Beteiligung von Betroffenen alles aufgearbeitet wird. Zugleich wurde eine große Anerkennung des Wirkens von Annette Kurschus deutlich, ihr Rückzug ist ein Verlust für die ganze Kirche. Ihre theologische Tiefe, ihr Sprachvermögen und ihre Zugewandtheit erfuhren in der Synode eine hohe Achtung. Ihre Zeitansagen und Berichte haben über viele Jahre hinweg Akzente gesetzt und Orientierung geschaffen.
epd: Wurde auch Kritik am Umgang der Kirchenleitung mit dem Fall geäußert, in der es ja auch Uneinigkeit gab?
Schlüter: In einer solchen Lage gibt es natürlich auch kritische Fragen und Kritik. Gefragt wurde vor allem zur Krisen- und Kommunikationsstrategie. Allen ist vor Augen, dass seit Mitte Oktober unglücklich kommuniziert wurde. Dass eine Kirchenleitung dann auch gefragt wird, seit wann sie informiert war, was sie beraten hat und warum sie sich so oder so entschieden hat, ist verständlich.
epd: Wurden die vorhandenen Differenzen ausgeräumt?
Schlüter: Die gemeinsame Erklärung von Synode und Kirchenleitung zeigt, dass wir uns gemeinsam dieser Situation stellen wollen. Das Vertrauen in die Kirchenleitung ist nach meiner Einschätzung grundsätzlich vorhanden. Zugleich gibt es einen kritischen Blick auf Probleme. In allen Kirchenkreisen gibt es Schwierigkeiten im Blick auf Haushaltsführung und wirtschaftliche Solidität, weil wir mit dem Umstellungsprozess unseres Finanzmanagements gestrandet sind und an vielen Orten verlässliche Zahlen fehlen. Im landeskirchlichen Haushalt gibt es ein großes Defizit, da hat die Steuerung nicht funktioniert. Dafür trägt die Kirchenleitung insgesamt Verantwortung. Trotzdem hoffe ich, dass in den Kirchenkreisen und Kirchengemeinden das Bewusstsein weiterhin vorhanden ist, dass wir eine gesamtkirchliche Identität aller Ebenen brauchen, dazu gehört die Organisationsform einer Landeskirche.
epd: Die Wiederwahl von Arne Kupke als Juristischer Vizepräsident der westfälischen Kirche wäre fast gescheitert: Erst wurde über eine Verschiebung der Wahl diskutiert und dann bekam er lediglich 57 Prozent der Stimmen. War das ein Ausdruck für allgemeinen Unmut in dieser Gemengelage?
Schlüter: Vor seiner Vorstellungsrede hatte Arne Kupke als Finanzdezernent eine Haushaltsrede zu halten, in der letztlich ein gescheiterter landeskirchlicher Haushalt vorgestellt wurde. Dass er vor diesem Hintergrund im Fokus von Kritik steht, ist nicht überraschend. Zudem sind interne Konflikte der Kirchenleitung im Umgang mit dem Fall Siegen medienöffentlich geworden.
epd: Was lernt die Landeskirche aus dem Fall im Kirchenkreis Siegen?
Schlüter: Bei sexualisierter Gewalt muss immer der erste Blick den Betroffenen gelten: Wir müssen den Kontakt suchen, hinhören und hinschauen. Der zweite Blick gilt der Transparenz: Es muss bei Wahrung der Persönlichkeitsrechte wahrhaftig und offen kommuniziert werden. Im Fall Siegen haben wir nicht offensiv kommuniziert, das lässt sich lernen. Wir sind ja in der evangelischen Kirche dabei, uns beim Thema sexualisierte Gewalt weiterzuentwickeln. Dazu gehört, dass Prävention und Intervention funktionieren, dass Aufarbeitung und Anerkennung angemessen ausgestattet werden. Eine Meldepflicht, wie wir sie in der westfälischen Kirche haben, ist richtig. Wir haben auch Interventionsstandards eingeführt. Menschen, die Verdachtsmomente wahrnehmen, müssen wissen, wohin sie sich wenden können, auch anonym.
epd: Finanzdezernent Kupke sieht wegen eines großen Haushaltslochs das System als solches in Frage gestellt. Welche Reformen sind nötig oder wie tief werden die Einschnitte?
Schlüter: Wir reden schon lange von Transformation. Vor rund 20 Jahren gab es wegen zunehmender Finanzprobleme große Reformprozesse, davon zeugt etwa die EKD-Schrift „Kirche der Freiheit“. Damals wurde vieles richtig gesehen, durch eine freundlichere Kirchensteuerentwicklung nach 2007 aber schnell wieder vergessen. Jetzt tritt vieles ein, das damals prognostiziert wurde: 30 Prozent weniger Mitglieder und Halbierung der Kirchensteuereinnahmen bis 2030. Jeder konnte wissen, dass in den 2020er Jahren die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach in den Ruhestand gehen. Damit entfällt ein großer Teil der Finanzierungsgrundlage.
Solange das Geld fließt, richtet man sich in dem am liebsten ein, was man kennt. Das ist menschlich. Wir werden aber jetzt Jahre erleben, die unser System nicht mehr erlauben, flächendeckend und kleinteilig mit Parochien und mit Körperschaften überall in gleicher Weise vertreten zu sein. Wir müssen uns auch aus den staatsanalogen Strukturen mit öffentlich-rechtlichen Körperschaften und Dienstverhältnissen lösen. Sie schaffen langfristige Verpflichtungen, von denen wir gar nicht wissen, ob wir sie einlösen können.
epd: Wie wird die westfälische Kirche in zehn Jahren aussehen – wenn der Umbau gelingt oder wenn er nicht gelingt?
Schlüter: Ich bin fest davon überzeugt, dass die evangelische Kirche, in welcher Sozialgestalt auch immer, dann noch lebendig da sein wird. Aber sicher nicht in der Weise, wie wir das jetzt in den letzten hundert Jahren erlebt haben: Dieses vereinskirchliche und gruppenbezogene Programm kann nicht der Normalfall bleiben. Das sage ich auch mit Trauer, aber ich glaube, wir müssen uns weiterentwickeln.
Wenn wir klug sind, betrachten wir größere Räume als Parochien und vereinbaren in diesen Räumen, was wir als evangelische Kirche und Diakonie miteinander tun können, an welchen Orten wir mit Qualität und Überzeugungskraft Kirche sichtbar machen. Wenn wir uns ein diakonisches Profil bewahren oder entwickeln, dann wird das auch Menschen ansprechen. So kommen wir unserem Auftrag der Kommunikation des Evangeliums sichtbar und verstehbar nach.
epd: Die Synode hat zum Abschluss ihrer Beratungen notgedrungen eine Haushaltssperre beschlossen. Was heißt das konkret?
Schlüter: Das heißt, dass im Moment nur Ausgaben getätigt werden können, die auf gesetzlicher Grundlage basieren. Größere Investitionen sind nicht möglich, bis ein Haushaltssicherungskonzept und damit auch wieder ein genehmigungsfähiger Haushalt vorliegt. Wir werden also jetzt für einige Monate die Pausetaste drücken müssen.
epd: Was bedeutet das für den geplanten Bau einer Hochschule für Kirchenmusik in Bochum?
Schlüter: Der Bau wird sich verzögern, ich bin aber dagegen, ihn aufzugeben. Die Kirchenmusik ist in dieser Kirche ein Schatz, der Menschen auf ganz anderer Ebene erreicht, als wir das oft mit Worten tun. Das Projekt ist eine große Chance. Mit einem zukunftsweisenden Konzept werden zwei Standorte zusammengeführt, dabei wird Personal reduziert. Wir werden hoffentlich unsere Aufgaben im Konsolidierungsprozess zur Haushaltssicherung machen. Das heißt auch, dass Aufgaben anders organisiert und verkleinert werden müssen. Das Problem unseres Haushalts ist aber nicht der Neubau der Kirchenmusikhochschule. Die strukturellen Kosten unseres Haushalts liegen in den Personalkosten, die über viele Jahre immer weiter gewachsen sind. Wir haben in vielen Bereichen einen hohen Personalbestand.
epd: Zu Beginn der Synode haben Sie in einer Andacht von Hoffnung angesichts der Vergänglichkeit gesprochen. Woraus beziehen Sie persönlich angesichts von Krisen und Herausforderungen Ihre Kraft?
Schlüter: Ich habe in der Andacht die Hoffnung in den Kontext der Vergänglichkeit gestellt. Wir sollten uns klarmachen, dass wir alle nur vorläufig handeln und dass nichts von dem, was wir tun und leisten und was uns wichtig ist, einen Ewigkeitsanspruch hat. Neben Menschen, die mir nahe sind, ist Musik für mich eine Quelle der Kraft. Auch Sport ist hilfreich für mich. Meine Hoffnung mit Blick auf die Kirche wird genährt von den Menschen, die sich an vielen Orten mit viel Leidenschaft und Energie engagieren. Sie füllen den Glauben und das Evangelium mit Leben. Das ist ermutigend.