Es sind surreale Szenen. Die Cafés sind voll, die Menschen in Tel Aviv suchen Zerstreuung. Und wenn es dunkel wird, pilgern sie in eine Zeltstadt, die ein Ex-Militär im Parkhaus aufgebaut hat. Die Leute lieben halt Camping.
Tel Aviv verbringt das zweite Wochenende unter dem Eindruck iranischer Raketen. Neun Tage sind vergangen, seit Iran mit dem ersten Gegenschlag auf israelische Luftangriffe reagierte. Den Menschen in der “Stadt, die nie schläft”, geht die Geduld aus mit dem Ausnahmezustand: Viele Cafés sind voll, Restaurants bieten Pick-up-Dienste, und am Strand klingt das rhythmisch-hölzerne Klackern der Matkot-Spieler, einer Art israelisches Strand-Ping-Pong.
Es sind surreale Szenen. Immer wieder halten Neugierige an dem Bauzaun, der jenen Krater absperrt, den in der Nacht zu Montag eine iranische Rakete in ein belebtes Innenstadtviertel gerissen hat. Eine junge Frau zieht verzweifelt suchend umher. Ihre Katze wird seit der Explosion vermisst. Suchanzeigen nach weiteren verschwundenen Tieren hängen an Laternenpfählen und Eingängen; daneben bewerben Glaser und Tischler ihre Dienste. In einem kleinen Laden haben Handwerker bereits mit dem Verputzen wiedererrichteter Wände begonnen.
Keine hundert Meter Luftlinie entfernt steht ein buntes Publikum Schlange für Sitzplätze in einem beliebten Café. Nach dem Schockmoment zu Beginn der iranischen Gegenschläge ist die Küstenstadt in weiten Teilen “wie immer”, sagen Schira und Omer. Das sei es, was Tel Aviv ausmache.
“Auch wenn alles furchtbar ist, sieht man Menschen auf den Straßen. Die Menschen suchen Interaktion und wollen, dass so viel wie möglich offen ist, statt zuhause zu sitzen und Nachrichten zu schauen.” Das Paar Anfang 20 hat auf dem Rückweg vom Strand an der Einschlagstelle gestoppt. Die Angst vor den Raketen konkurriert mit dem Wunsch nach möglichst viel Normalität.
Für Itay hat die Normalität in der Einschlagsacht ein abruptes Ende gefunden. Die Wohnung des muskulösen Endzwanzigers liegt unmittelbar an dem Haus, das von der Rakete getroffen wurde. “Die Druckwelle war enorm; alles aus Glas ist zersplittert, Türen und Fensterrahmen wurden rausgerissen”, sagt Itay. Die Patio-Tür von der Straßenseite habe er im hintersten Wohnungsteil wiedergefunden. Jetzt sind Itay und sein Partner in einem Hotel untergebracht. Mit dem Fahrrad fährt er zwischen dem zerstörten Haus und der Notunterkunft hin und her, “um das, was man aus den Trümmern retten kann, zu retten”. Der Schock ist ihm anzumerken.
Von der Kreuzung vor dem Trümmerfeld fällt der Blick auf die Strandpromenade. Rot-weißes Flatterband soll Besucher vom Wasser fernhalten; eine Aufforderung, an die sich kaum jemand hält. Es riecht nach Sonnencreme und Meer, in der Luft fliegen Beach-Volleybälle. Ähnliche Szenen wiederholen sich in den Parks der Stadt. Erst mit Sonnenuntergang wird es stiller. Statistisch gesehen fliegen die Raketen verstärkt in der Nacht, und bei allem Trotz gegen die Ausnahmesituation suchen die meisten die Nähe von Schutzräumen, in der Hoffnung, sie nicht zu brauchen.
Es ist die Zeit, in der in großen öffentlichen Bunkern unter der Stadt das Leben erwacht. Wer nicht im Schlaf von den Alarmen überrascht werden will, hat hier sein Lager eingerichtet. Im vierten Untergeschoss eines großen Parkhauses im Herzen Tel Avivs hat die Veteranengruppe “Brothers and Sisters in Arms” Kreativität an den Tag gelegt. Dutzende Zelte wurden aufgeschlagen. Eine Rezeption nimmt Schutzsuchende in Empfang. Es gibt eine Spielecke für Kinder, eine Essecke, und es werden kostenlos Shiatsu-Behandlungen angeboten. Neben der schweren Bunkertür bauen Musiker ihre Anlage für ein Konzert am Abend auf.
Die Zelte stammen von den Protesten gegen die Justizreform, sagt Ronen Koehler. Der ranghohe Reservesoldat der Marine gehört zu den Anführern der Gruppe, die sich monatelang den Regierungsplänen entgegenstellten. Es klingt wie eine Ewigkeit her. Die Parkhausaktion habe nichts mit Politik zu tun, beeilt sich Koehler zu sagen. Die Protestgruppe habe sich seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 auf Bürgerhilfe konzentriert, so auch in dem Parkhaus.
“Als wir herkamen, sahen wir Hunderte Menschen, die auf dem Boden schliefen, mit Pappkartons; Kinder und Babys, und es sah nicht sehr gut aus. Am Dienstagmorgen trafen sich etwa 15 von uns und fragten: Was können wir tun, um das zu ändern?”
Die Aktivisten überzeugten nicht nur den Parkhausbetreiber und die Stadtverwaltung. Die Initiative des “Untergrund-Campings” machte die Runde, und jeden Tag kommen neue Camper hinzu. Inzwischen habe die Stadt die Gruppe gebeten, weitere Schutzräume in ähnlicher Weise zu organisieren. Vor allem Familien mit Kindern und junge Studierende gehören laut dem Ex-Militär zu den dankbaren Abnehmern.
“Kinder lieben Camping. Viele der jungen Studierenden leben in historischen Teilen der Stadt, die hip sind – aber nicht unbedingt Schutzräume haben. Für sie ist es eine Möglichkeit, sich geborgen zu fühlen, Menschen zu haben, die sich um sie kümmern. Das ist besser, als die ganze Nacht in einer Wohnung zu liegen und Angst zu haben, weil man weiß, dass man nichts tun kann.”
Dem Krieg steht Ronen Koehler kritisch gegenüber. Als ehemaliger Soldat könne er sich eine Situation vorstellen, in der der Angriff auf den Iran “eine notwendige Maßnahme” war. Jedoch sei genauso klar, dass Regierungschef Benjamin Netanjahu und seine “dysfunktionale Regierung” eigene politische Ziele verfolgten. “Ich bin mir nicht sicher, ob jetzt der gesamte Denkprozess abgeschlossen ist. Sie wissen, wie man in einen Krieg kommt – aber wie planen sie, aus dem Krieg wieder herauszukommen?”
Koehler verweist auf den Klassiker “Gerechte und ungerechte Kriege” des US-Moralphilosophen Michael Walzer. Um welche Art es sich bei dem Schlagabtausch Iran-Israel handele, sei er sich nicht sicher. “Es ist grenzwertig.” Knapp 30 Stunden hält die relative Ruhe an der Küste. Am Sonntagmorgen dann, nachdem die USA die nächtliche Zerstörung iranischer Atomanlagen verkündeten, schicken Luftalarme die Menschen erneut in die Schutzräume.
Im Koehlers Parkhaus wird es voll. Die Stimmung bleibt entspannt. “Wir haben alle darauf gewartet, dass Trump uns hilft. Endlich geschieht es, und ich finde es gut”, sagt Gabi. Die 32-Jährige musste nach dem Hamas-Angriff ihren Wohnort an der libanesischen Grenze verlassen und lebt seither in einem Tel Aviver Hotel.
Im Bunker habe sei keine Angst, man höre nicht mal die Explosionsgeräusche von draußen. Gabi steht hinter den israelisch-US-amerikanischen Angriffen auf das iranische Regime. “Die Menschen im Iran lieben Israel. Es müssen Veränderungen stattfinden, damit die Welt frei sein kann. Dafür nehmen wir die Schwierigkeiten in Kauf.”
Nach einer knappen halben Stunde kommt die Entwarnung. Die Schutzräume dürfen verlassen werden, und es wird wieder leerer im Parkhausbunker. Draußen sind bereits wieder die ersten Cafés geöffnet. Zwischen Disziplin und Trotz sucht man in Tel Aviv den richtigen Umgang mit einer Ausnahmesituation.