Der Volkswirtschaftsprofessor Michael Bohnet (Foto) war lange Jahre an führenden Positionen im Entwicklungsministerium tätig und begleitete als entwicklungspolitischer Chefunterhändler des Ministeriums die meisten großen UN-Konferenzen der 90er-Jahre, darunter auch 1992 den Umweltgipfel im brasilianischen Rio de Janeiro. Im Interview mit Joachim Heinz spricht Bohnet, der 1996 in die „Earth Times“-Liste der 100 wichtigsten Persönlichkeiten im Bereich Umwelt und Entwicklung aufgenommen wurde, über sein neuestes Buch „Geschichte der deutschen Entwicklungspolitik“ (Uni-Taschenbücher Band 4320, 284 Seiten, 17,99 Euro) und wagt einen Blick in die Zukunft.
☐ Herr Bohnet, der damalige FDP-Minister Dirk Niebel schien Entwicklungshilfe verstärkt auch unter militärischen Gesichtspunkten zu betrachten. Setzt sich dieser Trend unter seinem Nachfolger von der CSU, Gerd Müller, fort?
Das glaube ich nicht. So hat Müller betont, dass er rein militärische Mandate, zum Beispiel im Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik, für nicht ausreichend hält. Er spricht stattdessen von einer vernetzten Entwicklungspolitik, einem Mix aus humanitärer Hilfe, technischem Wiederaufbau und der Förderung politischer Stabilität. Insofern betont er die Gleichwertigkeit der zivilen Komponente, also der Entwicklungszusammenarbeit, mit der militärischen.
☐ Aber hat sich nicht auch Müller starkgemacht für eine aktivere Rolle Deutschlands in der Welt und damit in letzter Konsequenz auch für vermehrte Militäreinsätze?
Im Gegensatz zu seiner Kabinettskollegin Ursula von der Leyen und wahrscheinlich auch im Gegensatz zu Bundespräsident Joachim Gauck hat er keinen Tunnelblick auf das Militärische, sondern betont die Wichtigkeit und Eigenständigkeit der Entwicklungszusammenarbeit. Das ist ein Un-terschied.
☐ Ein wichtiger Ansprechpartner in den vergangenen 60 Jahren deutscher Entwicklungspolitik waren bislang die Kirchen. Wird sich das ändern, wenn die Kirchen weiter an Mitgliedern verlieren und die finanziellen Spielräume für das Engagement in der Entwicklungszusammenarbeit möglicherweise schrumpfen?
Alleine im vergangenen Jahr hat das Entwicklungsministerium die Kirchen mit 220 Millionen Euro unterstützt, die jeweils zur Hälfte an die evangelische und die katholische Zentralstelle gingen. Die Eigenmittel der Kirchen für die Entwicklungszusammenarbeit und die Spenden werden auf unge-fähr 500 Millionen Euro beziffert. Angesichts dieser Zahlen denke ich, dass die Zusammenarbeit mit den Kirchen weiter ein zentrales Element bleibt – auch wenn dort die Eigenmittel und Spenden rück-läufig sein sollten.
☐ Was verspricht sich die Politik von der Kooperation?
Sie profitiert vom weltweiten Netzwerk der Kirchen, das durch ihre besondere Nähe zu den Ärmsten der Armen gekennzeichnet ist. Die Kirchen sind zudem sehr stark engagiert bei den zivilen Friedensdiensten.
☐ In Ihrem Buch blicken Sie zurück auf 60 Jahre deutsche Entwicklungspolitik. Werfen wir einen Blick 60 Jahre nach vorn. Welches werden mutmaßlich die drei größten Herausforderungen 2075 sein?
Die erste große Herausforderung ist der Klimawandel und zwar insbesondere das unerwartete Tempo dieses Wandels. Das wird dazu führen, dass in den Entwicklungsländern das klimatische Chaos zunimmt: Die Regenzeiten werden unberechenbarer, Dürren und Überflutungen häufen sich, es gibt immer heftigere Stürme.
☐ Was bedeutet das für die Entwicklungspolitik?
Sie muss gegensteuern. Und zwar, indem sie den betroffenen Ländern hilft, sich an den Wandel anzupassen. Es geht darum, Frühwarnsysteme zu installieren, die Katastrophenvorsorge auszubauen und – weltweit – den Ressourcenverbrauch radikal zu senken.
☐ Herausforderung Nummer Zwei…
…ist das Bevölkerungswachstum. Wir haben derzeit 7,2 Milliarden Menschen auf der Erde, im Jahr 2075 werden es 9,9 Milliarden sein, ein Zuwachs von 2,7 Milliarden. Die zentrale Frage lautet: Wie können wir die Ernährung aller sicherstellen?
☐ Ihre Antwort?
Zum einen durch die Förderung von kleinbäuerlicher Landwirtschaft in den Entwicklungsländern. Zum anderen durch einen Ausbau der internationalen Agrarforschung. Schließlich durch mehr Mittel für die Förderung von Familienplanungsprojekten.
☐ Das wird die katholische Kirche vielleicht nicht so gerne hören, zumindest, wenn es über die natürlichen Methoden der Verhütung hinausgeht.
Trotzdem ist darüber nachzudenken. Tabus müssen gebrochen werden. Die Kirchen werden übrigens – neben den politischen Stiftungen – bei der dritten Herausforderung eine ganz zentrale Rolle spielen.
☐ Die da wäre?
Der Umgang mit der Flüchtlingsproblematik. Aktuell gibt es 40 Länder, die zur Gruppe der fragilen und von bewaffneten Konflikten betroffenen Staaten zählen. Dort leben derzeit 1,5 Milliarden Menschen. Im Jahr 2075 wird in diesen Ländern aller Voraussicht nach die Masse der Armen wohnen. Und es besteht die Gefahr, dass zu den 40 Staaten weitere hinzukommen. Hier muss die Weltgemeinschaft dringend neue Konzepte entwickeln.